Kunst und Provinz

KM Magazin Weimar, 2015


Es gab einmal eine Zeit, da dauerte es sehr lange, bis Nachrichten über politische Geschehnisse oder gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen, Ereignisse und Moden von den Hauptstädten in die Provinzen gelangten. Aus dieser Vergangenheit stammt das Stigma der Rückständigkeit, das sich bis heute gehalten hat, obwohl es mit den schnellen Medien längst obsolet geworden ist, längst nicht mehr gilt. Die Zuschreibung als „provinziell“ ist nach wie vor abfällig gemeint als hinterwäldnerisch, gestrig, langweilig. 

Allerdings sind auch heute noch die wichtigsten Kunstereignisse in den Metropolen und großen Städten zu finden, wohin fast alle finanziellen, baulichen und institutionellen Ressourcen fließen. Außerhalb der Zentren verfügen die Orte in den Provinzen selten über ein eigenes Kulturbudget und sind somit gar nicht in der Lage, in die Förderung von Kunst in der eigenen Region zu investieren. Auf diese Situation reagiert das Festival der Regionen im Bundesland Oberösterreich seit 1993, in dem es alle zwei Jahre in wechselnden Orten außerhalb der Ballungsräume ein Festival für aktuelle Künste aus allen Sparten ausrichtet. Nun ist die Beschäftigung mit „moderner Kunst“ nicht selbstverständlich, was der kuratorischen Ambition spezielle Strategien und Herangehensweisen abverlangt: Zunächst werden die Schutzräume der institutionellen Kunstbetriebe mit ihren professionellen Strukturen samt verlässlicher Klientel verlassen, die warmen Nester der Expertenfamilien, die Komfortzonen der Fachgemeinschaften mit ihren bekannten Gesichtern, wo man den selben Jargon spricht, die Regeln der Szene-Rituale befolgt und die geschäftsmäßigen Mechanismen des Kuratierens und Ausstellens souverän verinnerlicht hat. Ein Kunstfestival geht „aufs Land“. Wozu? – Wer jetzt die gewohnte Kunstausübung lediglich von einem großen Ort an einen kleinen Ort verlagern wollte, würde jedenfalls scheitern, weil selbst die beste Rezeptur aus feinem Themenkonzept und bekannten Künstlerpersönlichkeiten nur bei wenigen Menschen aus der Region die gewünschte Beachtung fände, sofern die verhältnismäßigen Anteile von Kunstinteressierten in einer Gemeinschaft hier wie dort in Betracht gezogen werden. 

Die große Herausforderung und das Interessante am „Wozu?“ liegt im ersten Schritt gar nicht im Projekt „Kunst“, sondern im Ort selbst. Jede Region besitzt eine spezielle Identität, die sich aus geschichtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und urbanen/landschaftlichen Komponenten erschließt. Und in jeder Region wirken gute Kräfte, die das kulturelle Leben prägen. So banal dies klingen mag: Eine Grundvoraussetzung für Akzeptanz ist die Ambition, die Kunstveranstaltung nicht nur in einer Region stattfinden zu lassen, sondern vor allem für die dortigen Bewohnerinnen und Bewohner sie zu gestalten. Um hier bestehen zu können, muss zunächst umfassendes Wissen angeeignet werden, woraus sich dann die Motive, Motti und Inhalte für die künstlerischen Interventionen ergeben. Die eigentliche gestaltende Arbeit beginnt an diesem Punkt, wenn die Recherchen interessante Themenfelder und Räume erschlossen haben. Das Format „Festival“ ist dann mit seiner zeitlich-räumlichen Verdichtung und mit einigermaßen opulentem Programmangebot am besten geeignet, künstlerische Aktivitäten zu inszenieren, Aufmerksamkeit dafür zu gewinnen und fruchtbare Vermittlungsarbeit zu leisten. 

Künstlerische Formulierungen können vorgefundene Verhältnisse auf den Kopf stellen, in absurden Handlungen münden oder provokant überspitzen. Wer sich darauf einlässt, sieht sich mit differenten Sichtweisen auf Bekanntes konfrontiert und lässt sich bestenfalls mit Gewinn auf originelle gedankliche Überschreitungen ein. Die Künstlerschaft agiert im ungeschützten öffentlichen Raum und setzt sich damit unterschiedlichen Reaktionen aus, die sie zwingt, ihre Positionen deutlich zu erklären und zu verteidigen. Sie kommt ja nicht mit anbiederndem oder missionarischem Gestus in den Ort, sondern hinterfragt und kratzt an den Verhältnissen, zwingt die Einwohnerschaft zur Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte und ihren gesellschaftlichen Umständen. Was durchaus als Störung empfunden werden kann, aber auch als Anregung, den eigenen Lebensraum mit anderen Augen wahrzunehmen. Immerhin kann Kunst geschichtliche und gegenwärtige Ereignisse in Zusammenhang bringen, Aspekte des gesellschaftlichen Lebens analysieren und interpretieren, was differenziertere und schärfere Blicke auf die Gegenwart ermöglicht.
Letztlich soll es gelingen, eine Balance zwischen künstlerisch-ästhetischem Handeln und sozialem Agieren zu finden, Dialoge zu moderieren, Impulse zu geben, Verständnis für zeitgenössisches Kunstschaffen zu erreichen. Rezepte und Garantien gibt es kaum. Mit einiger Hartnäckigkeit wird versucht, möglichst viele Menschen in der Region zu animieren, als ernstzunehmende Mitwirkende konstruktiv an künstlerischen Prozessen teilzuhaben. Nur wenn es gelingt, der Einwohnerschaft zu vermitteln, dass das Festival und sein Thema mit ihren Belangen – ihrer Geschichte, ihren Geschichten und ihren sozialen Verhältnissen – zu tun hat, wird auch eine anspruchsvolle Kunstveranstaltung angenommen. Bisher jedenfalls bewährte sich die Mischung aus internationalen, überregionalen und regionalen Kunstschaffenden gut, um breite Akzeptanz in den jeweiligen Regionen zu erlangen.

Das grundlegende Bestreben ist das Herstellen von Öffentlichkeit und Offenheit. Für den Autor und Theatermacher Tim Etchells bedeutet Kunst den Wunsch, Menschen aufmerksam zu machen, aber: „Andererseits denke ich, dass es darum geht, sie Grenzen erkennen zu lassen, die Kanten, die Gestalt der Machtgefüge, in denen wir leben. Letztlich hat das natürlich mit Wirkung zu tun – sowohl intellektueller als auch agierender. Ich finde, die beste Kunst fordert, konfrontiert und lädt zugleich ein.“