Symposium „Vom Hören und Sehen“
2 Vorträge, Buchenried am Starnberger See, 19.-21. Mai 2016
Kulturreferat München, Volkshochschule München, Münchner Philharmoniker
Musikalische Begleitung: Suyang Kim (Klavier) und Manuel Von Der Nahmer (Violoncello)
Vortrag 1: Über die Sinne: Hören und Sehen
Ich möchte vorausschicken, dass ich kein Physiologe bin, kein Musikologe, auch kein Biologe und überhaupt kein Vertreter der Wissenschaft. Ich komme aus der bildenden Kunst und arbeite als Kurator in weitläufigen Gefilden wie Kunstausstellungen, Theater, Performance und Musik. – In das Gebiet der Sinne bin ich eher zufällig durch einen Auftrag der OÖ Landesmuseen geraten, eine Ausstellung mit dem Titel „Über die Sinne“ zu gestalten, die Verbindungen von Kunst und Naturwissenschaft darstellen sollte. Nun hatte ich die Ambition, eine sinnlich erfahrbare Schau für das Publikum einzurichten und konfrontierte die Museumsleute mit eher ungewöhnlichen Aufgaben wie Kombu-Algen aus Hokaido zu besorgen, Feuerflöhe aus der Karibik, eine Haifischhaut usw. usw. – Sehr schnell hatte sich herausgestellt, dass meine Ansprüche das Museum total überfordern würden, woraufhin ich gebeten wurde, meine Ambition in Form einer Broschüre darzustellen. Zwei Jahre später ist aus der geplanten Broschüre ein dickes Buch mit fast 600 Seiten geworden, gewissermaßen ein Ausstellungskatalog ohne Ausstellung.
Aus dem Riesenreich der Sinne beschränken wir uns für dieses Symposium auf das Hören und Sehen; heute geht es hauptsächlich um die physiologischen und synästhetischen Aspekte, morgen um die Beziehungen zwischen Musik, Klang und Bild.
Trotzdem möchte ich mit der Haut-Sinneszelle beginnen, weil sie aus evolutionärer Sicht die Urzelle des gesamten Nervensystems ist. Dieses System gilt für alle Lebewesen, vom Wurm bis zum Menschen. Die einfache Bauart ist bis heute immer noch in der Riechschleimhaut in der ursprünglichen Form vorhanden. Die Abbildung zeigt zwei Hautsinneszellen: wenn Sie Lust haben, dürfen sie raten, welche davon zu einem Menschen und welche zu einem Regenwurm gehört … (ich verrate es Ihnen: a = Regenwurm, b = Mensch). Es ist nach wie vor frappierend für mich, dass sich aus diesen Winzlingen das ganze komplexe Nervensystem aller Lebewesen entwickelt haben soll. – Aber die weiteren evolutionären Schritte sparen wir uns jetzt, um zu unseren Themen zu kommen; zuerst mit ein paar Geschichten über das Sehen:
In dem fabelhaften, 1926 erschienenen Buch „Das Leben des Menschen“ des Arztes Fritz Kahn habe ich diese schöne schematische Zeichnung der Netzhaut des Auges gefunden, die Glaskörper, Grenzmembrane, Nervenfasern, Nerven-, Schalt-, Stütz- und Horizontalzellen, Zapfen, Stäbchen, Pigmentzellen, Glasmembran und Aderhaut darstellt. Die lichtempfindliche Haut, die sich wie ein Netz um den Glaskörper legt, bezeichnete bereits im 2. Jahrhundert der griechische Arzt Galen Netzhaut; deren Funktion wurde jedoch erst Anfang des 17. Jahrhunderts von Johannes Kepler entdeckt, der darauf im Zusammenhang mit der Beobachtung einer Sonnenfinsternis aufmerksam wurde, weil ihm der Monddurchmesser kleiner erschien als sonst. Die Lösung fand er in der Theorie der Strahlung durch kleine Öffnungen, die sich als richtig erwiesen hat. Bis dahin vermuteten und disputierten Naturphilosophen die seltsamsten Theorien darüber, auf welche Weise das Gesehene ins Auge kommt und wahrgenommen wird. Der erste Ansatz einer Sinnesphysiologie findet sich im 5. Jhdt. vor unserer Zeitrechnung bei Pythagoras von Samos, der sich den Sehvorgang als unsichtbares Feuer vorstellte, das aus den Augen strömt, die wahrzunehmenden Objekte berührt und deren Formen und Farben erfasst. Danach entwickelten Leukipp, Demokrit und Epikur die Theorie, dass Wahrnehmung entsteht, wenn Bilder von außen eindringen, d.h. dass die Objekte Strahlen oder „gewisse Abdrücke“ aussenden würden, die in das Auge der Beobachter mit großer Schnelligkeit eindringen. Als größtes Problem der Empfangstheorie stellte sich die Größe der Objekte heraus, denn das Abbild eines sehr großen Berges müsste sehr drastisch zusammenschrumpfen, um in die Pupille eindringen zu können. Außerdem wäre die Annahme absurd, das Abbild eines Berges könne eine Vielzahl von Beobachtern gleichzeitig erreichen. Der Berg kommt also nicht zum Philosophen. – Dann kam Platon mit seiner Sendetheorie, bei dem das Feuer als Sehstrahl eine Rolle spielte, als Licht- oder Feuerstrahl, der mit dem Sonnenlicht verschmilzt. Sein Schüler Aristoteles verwarf diese Idee vehement (Zitat): „Überhaupt ist es widersinnig, dass das Sehen durch Aussenden von irgend etwas zustande kommen soll, was dann also bis zu den Sternen sich spannen müsste, oder dass das Sehen auf eine bestimmte Entfernung heraustrete und sich dort mit etwas vereine.“ (Zitat Ende).
Die Optik des Euklid nahm bereits etwa 300 Jahre vor Galen die Mathematik als Grundlage seines Konzeptes eines Gesichtskegels, wonach das Licht geradlinig durch den Augapfel zum Gehirn geleitet wird, und auch Ptolemäus führte das Sehen auf das Wirken eines Sehausflusses zurück, der kegelförmig vom Auge des Betrachters ausgesandt wird. Solche kuriosen und wunderlichen Theorien gibt es noch viele weitere, wie beispielsweise jene von Plinius, der in seiner Naturgeschichte vermutete, dass das Auge durch ein Blutgefäß mit dem Gehirn und sogar mit dem Magen verbunden sein müsse. Plinius verbreitete auch die Fake-News, dass es unter den Skythen Frauen mit zwei Pupillen in jedem Auge gäbe, die Leute durch einen Blick töten können, wenn sie sie wütend ansehen.
(Dieses Bild zeigt das „Fotolabor“ im Auge, aufgenommen mit einem Raster-Elektronenmikroskop der Abteilung Hirnforschung am Max-Planck-Institut.) – Die moderne Neurobiologie und Gehirnforschung erkennt das Sehen eher als einen Teil des Denkens und des Bewusstseins als einen isolierten Vorgang, spricht vom „mühelosen Sehen“, das uns das Gesehene durch das Auge ins Bewusstsein bringt. Die Augen sind also bloß Empfänger, die dem Gehirn Informationen liefern, die erst dort zum Bild werden. Mit dem Ausspruch „Die Augen sehen nicht“ hat dies bereits Konfuzius angenommen, später auch noch Parmenides, der auf die Frage, was das Gesehene sei antwortete: „Das Auge erweist sich als ein bloßer Gaffer“. Dieser bloße Gaffer ist immerhin ein Wunderwerk, das das von der Netzhaut wahrgenommene Bild in elektrische Nervenimpulse verwandelt und ins Gehirn leitet. Für diesen Prozess werden bis zu 100 Millionen Sinneszellen auf der Netzhaut gereizt, von wo das Bild in den Sehnerv wandert. Pro Sekunde nehmen unsere Augen 10 Millionen Informationen auf – also ist das, was wir Sehen nennen, ein grandioses Feuerwerk von Signalen in unserem Kopf.
(Hier sehen Sie einen kleinen Ausschnitt aus der Sehrinde im Gehirn. Die Zellen verändern sich ständig und kontrollieren die Analyse von Bildbereichen). – Kleinste Störungen in diesem „Chip“ können fatale Auswirkungen haben, wie zum Beispiel der Neurologe Oliver Sacks vom Erlebnis eines Malers berichtet, der nach einem Unfall keine Farben mehr erkennen konnte. Die Haut der Menschen erschien ihm „rattenfarbig“ und das Essen kostete ihn Überwindung, weil es ohne Farben scheußlich und ungenießbar aussah. Er sah die Welt in Grautönen wie eine Schnecke. Bei diesem Unfall blieben die Augen und ihre Sinneszellen unbeschädigt, die Verletzung betraf nur eine bestimmte Region im Gehirn – was beweist, dass die Farben erst im neuronalen Netz des Hirns identifiziert werden.
Auch in der Evolution des Gehörs gibt es eine Erinnerung an unsere Herkunft aus dem Wasser: am zwanzigsten Tag der menschlichen Entwicklung brechen nämlich am Hals des Fötus vier Kiemenspalten durch. Weil wir aber heute keine Kiemen mehr benötigen, hat sie die Natur rationalerweise in andere Organe umgebaut. So wird aus den kleineren dritten und vierten Spalten das Zungenbein, aus den ersten und zweiten bildet sich der Gehörgang – ein Kanal, der wie ein ursprünglicher Kiemengang vom Schlund durch die Kopfwand nach außen führt. Der Hörsinn ist im Werden des Menschen der erste ausgebildete Sinn; bereits mit viereinhalb Monaten reagiert der Fötus auf akustische Reize und auch die anatomische Entwicklung des Ohrs ist zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. Der Fötus vernimmt die Geräusche aus dem Mutterleib und die von außerhalb eindringenden Töne.
Ein Hörorgan wurde das Ohr erst, als die Wirbeltiere vor etwa 500 Millionen Jahren an Land gingen und damit in die luft- und schallbewegte Atmosphäre aufstiegen. Mit dem Wechsel vom Wasser zum Land konnte mit dem Organ nur ein Tausendstel der in der neuen Umwelt vorhandenen Geräusche wahrgenommen werden, weshalb sich zusätzlich zum Innenohr ein Außen- und Mittelohr entwickeln musste. Weil die Interpretation der akustischen Vorgänge im Gehirn stattfindet, kann angenommen werden, dass sich nicht nur die akustische Erscheinung der Welt verändert hat, sondern auch die Art ihrer Wahrnehmung. Das Hören ist demnach ein Prozess der Weltwahrnehmung, der sich mit dem Wandel der akustischen Erscheinungen verändert. Die Wahrnehmung der akustischen Erscheinungen wiederum verändert sich mit dem Wandel des Hörens.
Im Indischen heißt das Ohr „das Loch, durch das der Hörstrom geht“. Damit sind wohl die Schallwellen gemeint, deren Empfang Fritz Kahn so beschreibt: (Zitat) „Zur Aufnahme der Luftwellen haben sich im Körper an zwei symmetrischen Punkten Nervenapparate gesammelt – die Ohren, die die Schallwellen mit zwei großen Trichtern – den Ohrmuscheln, auffangen und in ein schneckenförmiges Organ – die Gehörschnecke leiten. Beim Durchlaufen dieses Schneckengangs streifen die Luftwellen über eine Klaviatur von Nervenzellen, deren Fühlhaare unter den Schwingungen der Luft erzittern und diese Wellenbewegung durch Nervendrähte ins Gehirn leiten, wo wir sie als Ton empfinden.“ (Zitat Ende). Ob es also eine Glocke ist oder die Flügel einer Mücke: Nur aus einer Bewegung heraus werden Luftmoleküle aufgewirbelt, die als Schallwellen in unser Ohr dringen, vom elastischen Trommelfell aufgefangen und an die drei kleinsten Knöchelchen mit den großen Namen Hammer, Amboss und Steigbügel geleitet werden, die das Signal mittels der Flüssigkeit im Innenohr gegen die kleinen Härchen drücken, die in der Stafette des Hörens weitergeben an die umliegenden Nervenzellen, die schließlich das Gehirn mit der Analyse des Gehörten befassen. Der Mechanismus klingt einfach: Klangwellen werden aufgenommen, in flüssige Wellen umgesetzt und in elektrische Impulse verwandelt.
Wenn wir den Vergleich mit einer Katze anstellen, deren Hörvermögen bis zu 100.000 Schwingungen pro Sekunde reicht, bleibt dem menschlichen Ohr mit mageren 20.000 Schwingungen ein großer Teil des akustischen Kosmos verschlossen. Ob dies ein Glück oder ein Manko ist, bleibt dahingestellt. Physiologisch sind wir also nicht in der Lage, das gesamte Spektrum der tönenden Welt zu hören. Seit es Ultraschallaufnahmen gibt wissen wir, dass es ziemlich laut tönt und lärmt außerhalb unserer Wahrnehmungsgrenzen. Jean Cocteau empfand die Aussicht, dass wir mittels künstlicher Ohren den gesamten Klang der Erde hören könnten, als Bereicherung. (Zitat): „Wir werden erfahren, dass die Fische schreien, dass die Meere von Lärm erfüllt sind, und wir werden wissen, dass die Leere bevölkert ist von realistischen Geistern, für die wir ebenfalls Geister sind.“ (Zitat Ende) Jedes kleinste Objekt erzeugt Schwingungen und somit auch Klänge. John Cage zum Beispiel träumte von einer sensiblen Technik, die es ihm erlauben würde, das Geräusch herunterfallender Sporen von Pilzen aufzunehmen, wenn sie auf den Boden auftreffen. Er war überzeugt, dass letztendlich alles auf der Welt hörbar ist, zumal sich alles im Zustand der Vibration befindet. – Diese Vibrationen erlauben uns, nicht nur mit den Ohren zu hören, sondern mit dem ganzen Körper, wo Schallwellen vorzugsweise über die Knochen geleitet werden, wie das Beispiel des ertaubten Beethoven zeigt, als die Hörrohre nichts mehr nützten. Er legte bekanntlich einen Holzstab an den Resonanzboden des Klaviers und nahm das andere Ende zwischen seine Zähne, wodurch er die Schwingungen der Saiten erfühlte und die Töne imaginieren konnte. Dieses „innere Hören“ erlaubte ihm weiter zu komponieren. Die Beziehung von Klang, Raum und Körper ist das lebenslange Thema des Künstlers Bernhard Leitner, dessen Objekte und Klanginstallationen sich nicht nur an das Ohr richten, sondern immer an den ganzen Körper. (Zitat): „Töne werden nicht nur über die Ohren aufgenommen, sondern auch durch die Haut. Die Waden sind akustisch schwerhöriger als die Brust. Man hört auch mit dem Knie, man hört auch mit den Fußsohlen.“ (Zitat Ende).
Hinsichtlich der Wahrnehmung von Musik ist die Erklärung der Neurowissenschaft interessant, weshalb wir manche Tonfolgen als Wohlklang empfinden und manche nicht. Laut dem Münchner Hirnforscher Ernst Pöppel sind dafür grundlegende Mechanismen im Gehirn nötig, um die elementaren Phänomene der Zeitkünste nachvollziehen zu können. (Zitat): „Ein Musikstück ist nur verstanden, wenn das richtige Tempo gefunden worden ist, da bei einem falschen Tempo musikalische Motive verzerrt erlebt werden oder nicht mehr erkennbar sind. Die Kontrolle des Tempos bei der Musik kann sich nicht aus Traditionen oder gar dem Musikstück selbst ergeben, sondern unterliegt neuronalen Mechanismen, und zwar insbesondere jenen, die Bewegungsabläufe steuern. Es ist keineswegs selbstverständlich, durch ein Musikstück hindurch ein einheitliches Tempo aufrecht erhalten zu können. Solche Tempokontrollen oder die ganzzahlig definierten Zeiteinteilungen der Notenlängen erfordern spezifische Programme des Gehirns.“ (Zitat Ende). Soweit zur neuronalen Konditionierung. Wenn demnach innerhalb eines Intervalls von etwa drei Sekunden nur ein einziges Klangereignis zu hören ist, kann sich kein Gefühl musikalischer Bewegung einstellen. Und ein falscher Akkord wird selbst von unmusikalischen Menschen als solcher empfunden. Wie sieht dies aber aus, wenn wir mit neuen Formen der Musik konfrontiert werden, die ungewohnte Tonalitäten, Zeitdauern und Zufälligkeiten anbieten, oder schnelle zeitliche Abläufe in der elektronischen Musik?
Pöppel erklärt das so, dass trotz aller Veränderungen in der Zeitstruktur solcher Musik im Hörer eine zeitliche Ordnung geschaffen wird; die Zufälligkeiten werden geglättet und die Absicht einer Zufallskomposition scheitert, weil wir schlicht kein Organ für den Zufall haben. Und ist ein Musikstück im mathematischen Sinne zufällig strukturiert, nimmt unser Gehirn eine Reduktion der Komplexität vor und erfindet Strukturen, auch wenn diese gar nicht vorhanden sind. Ob also ein Komponist wie zum Beispiel John Cage über die ordnende Sturheit des Gehirns Bescheid wusste? Bekanntlich gestaltete Cage viele seiner Kompositionen unter Einbeziehung von Zufallsoperationen, wobei sich Fettflecken auf Butterbrotpapier zu Notationen formierten, oder erwürfelte Töne aus dem Orakelbuch I Ging. Im Bild sehen sie ein Blatt mit einer Partitur auf Transparentpapieren aus seiner „Cartridge Music“ von 1960.
Von der Antike bis in die Neuzeit gehörte die Musik in den Bereich der Wissenschaften, genauer in den der Mathematik. Für Leibniz ist sie ein arithmetisches Exerzitium der Seele, wobei dieser sich nicht bewusst ist, dass sie zählt. Kepler entwickelte seine Harmonie der Sphären auf der Grundlage musikalischer Intervalle, die im gesamten Universum gelten, das als riesiges Musikinstrument betrachtet wird, das in ständiger harmonischer Selbsterregung tönt. Das menschliche Ohr nimmt Töne zwischen den Schwingungszahlen sechzehn und zwanzigtausend wahr. Ein Ton wirkt für uns erst dann musikalisch, wenn er sich aus mindestens vierzig Schwingungen in der Sekunde zusammensetzt, weil diese Reizzahl erforderlich ist, um eine einheitlich fließende Schallempfindung zu erzeugen. – Dennoch ist die Geschichte der Musik auch eine Geschichte der Kultur und der Entwicklung unserer Hörfähigkeit, wobei die Musiker naturgemäß immer einen Schritt voraus sind. Die Neutöner unter den Komponisten sind von den Zeitgenossen nicht immer verstanden worden. So etwa bezeichnete Carlo Goldoni die damals neuartige französische Oper als „Himmel für die Augen und eine Hölle für die Ohren“; der alte Goethe fühlte von der bis dahin ungehörten Polyphonie Beethovens sein Ohr misshandelt. Über Beethovens heute so gerne gehörte Zweite Symphonie urteilte die zeitgenössische Kritik: „Ein krasses Ungeheuer, ein angestochener, unbändiger Lindwurm, der nicht sterben kann und im Finale mit aufrechtem Schweife um sich haut“, und seine „Eroica“ wurde gar als „Ende der Musik“ empfunden. Wir kennen viele solche Urteile über Werke von Tschaikowsky, Mahler, Schönberg usw.. Ungewohnte Dissonanzen lehnen wir instinktiv ab, bis wir gelernt haben, eine musikalische Struktur zu verstehen, also mit dem Verstand zu hören.
Hin und wieder werden die Augen von den Ohren getäuscht, wie zum Beispiel aus einem Bericht von Wissenschaftlern hervorgeht, die sich ja manchmal seltsame Experimente einfallen lassen. In diesem Fall wurden Testpersonen angeblitzt, zugleich wurden Pieptöne in den Raum gespielt. Bei einem Blitz mit zwei Piepsern behaupteten die Probanden einhellig, zwei Blitze gesehen zu haben. Das Gehirn verlässt sich also lieber auf das Ohr, wenn zwei widersprüchliche Sinneseindrücke eintreffen. Obwohl Seh- und Hörsinn als Einheit funktionieren, scheint sich einer stets benachteiligt zu fühlen, was daran liegt, dass das Auge leichter manipulierbar ist als das Ohr, das weniger vom Willen regierbar ist – als ein von der Natur sorgfältig eingebauter Verteidigungsmechanismus.
Das Ohr ist also das Organ der Aufmerksamkeit, das „gewissermaßen an der Grenze wacht, jenseits derer das Auge nicht mehr sieht“, wie es Paul Valéry beschreibt. Der Soziologe Georg Simmel bezeichnete das Ohr als schlechthin egoistisches Organ, das nur nimmt, aber nicht gibt, aber: (Zitat): „Es büßt diesen Egoismus damit, dass es nicht wie das Auge sich weg wenden oder sich schließen kann, sondern, da es nun einmal bloß nimmt, auch dazu verurteilt ist, alles zu nehmen, was in seine Nähe kommt.“ (Zitat Ende)
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Wir sind also schließlich beim Zusammenspiel der Sinne, das bereits Aristoteles den „Gemeinsinn“ nannte und sich ein netzartiges, koordinierendes System vorstellte, das in einem Punkt zusammenlaufen müsse. So melden die Einzelsinne zwar isolierte Daten wie etwa grün, braun, hoch, rund etc., aber erst der Gemeinsinn erkennt, dass es sich um einen Baum handelt.
Doppel- und Mehrfachempfindungen, das Zusammenfließen und Interagieren von Sinneseindrücken wurde Mitte des 19. Jahrhunderts vom Arzt Alfred Vulpian Synästhesie genannt, als er nach einer Bezeichnung für den Transfer von Sinnesreizen auf die Nerven eines anderen Sinnes suchte. Seitdem wird der Begriff weit gefasst; sowohl für die Übertragung von Reizen ins neuronale Netz als auch als Begriff für künstlerische multimediale Verfahren im Sinne von Gesamtkunstwerken. Für die Hirnforschung ist sie ein unwillkürliches Wahrnehmungsphänomen, etwas, das jemandem unbeabsichtigt zufließt und nicht abstrakt konstruiert wird.
Wir unterscheiden also das normale assoziative Vermögen, das uns allen eigen ist, und einer „echten“ Synästhesie als einer Gabe, mit der nur ganz wenige Menschen ausgezeichnet sind. Echte Synästhetiker sind Menschen, bei denen Sinnesassoziationen unwillentlich durch verschiedene Reize ausgelöst werden. Lange Zeit wurde diese Gabe als Schizophrenie-verdächtige Krankheit aufgefasst, weil die Stimuli zwanghaft sind, sich außer Kontrolle ins Bewusstsein drängen. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren dafür „visuelle Störung“ oder sogar „psychische Perversion“ gängige medizinische Fachausdrücke. Weil Menschen ohne diese Fähigkeit Beschreibungen von Synästhetikern nicht nachvollziehen oder nachprüfen können, wurden sie gerne als Hirngespinste abgetan. Es sind individuelle Wahrnehmungswelten, über die kaum eine Verständigung möglich ist. Der Arzt Fritz Kahn erzählt in seinem Buch die Geschichte von zwei kleinen Brüdern, die sich regelmäßig prügelten, weil sie beim Klang bestimmter Geräusche verschiedene Farben hörten und darüber in Streit gerieten. Während der eine behauptete, dass die Eisenbahn blau rattere, bestand der andere darauf, das sie grün klinge. Dieser Streit konnte vermutlich nie beendet werden, weil bei allen Synästheten die Assoziationen während des ganzen Lebens konstant bleibt. Wenn ein bestimmter Ton blau ist, bleibt er auch blau.
Zumeist entstehen die Assoziationen in Verbindung von Musik und visuellen Projektionen. In der Abbildung sehen wir die Zuordnung von Farben und Formen zu Instrumenten aus einer Fallstudie, die Klaus Ernst Behne beschrieb. Interessant sind auch die visuellen Formen, die der Proband zu verschiedenen Stimmen sah. Ein anderer Proband beschreibt seine Eindrücke mit Worten, diesmal aus der Forschung des Neurologen Richard Cytowic: (Zitat): „Wenn ich Musik höre, sehe ich die Formen auf einer Fläche außerhalb von mir, etwa dreißig Zentimeter vor meinem Gesicht, auf die die Musik buchstäblich projiziert wird. Klänge ähneln am ehesten oszillografischen Mustern, farbig bewegten Linien, oft metallisch, mit Höhe, Breite und, was am wichtigsten ist, auch mit Tiefe. Meine Lieblingsmusik hat Linien, die sich über das normale Gesichtsfeld hinaus in die Horizontale ausdehnen.“ (Zitat Ende). Leider ist keine Auskunft über seine Lieblingsmusik angegeben. Es gibt auch andere Sinneskombinationen, bei denen manchmal Zahlen, Vokale, Buchstaben oder ganz banal Wochentage Auslöser für Erscheinungen sind. Die moderne Neurologie erklärt das Phönomen mit „Anfallsauslösungen“, die vom Schläfenlappen ausgehen und subjektive Erlebnisse hervorbringen, als Begleiterscheinungen limbischer Reizungen. Echte Synästhesie kann also nicht unterdrückt, aber auch nicht willentlich heraufbeschworen werden. Synästhetiker empfinden eine unerschütterliche Überzeugung und Gewissheit, dass das, was sie wahrnehmen, real vorhanden ist.
Bilder von Synästhetikern sind nicht nachempfindbar, sie erscheinen den Außenstehenden beliebig und austauschbar. Innere Bilder müssen nicht unbedingt über künstlerische Ausdruckskraft verfügen. Zu dieser Erkenntnis musste letztlich der Künstler Alexander László gelangen, der in den 1920er Jahren die Ambition hatte, Malerei und Musik als Einheit zu einer neuen Kunstgattung zu führen. Das synästhetische Empfinden des Künstlers war der Impuls zu einer „Farblichtmusik“, einem abstrakten Farben- und Formenspiel, das auf seinem musikalischen Empfinden begründet war. „Die Farblichtmusik als Kunstgattung ist rein psychischer Natur, sie ist Sache des Sentiments“, sagte er über seine Farb-Licht-Konzerte, die zu seiner Zeit außerordentlich populär waren. Für die Realisierung im Konzert benötigte er für die damalige Zeit unerhörte Anzahl von 200 Scheinwerfern. Er selbst ging noch davon aus, dass seine eigenen Bilder zur Musik nachvollziehbar seien; für die Zuschauer war es aber nur ein prächtiges Spektakel; die synästhetischen Assoziationen des Künstlers blieben unverständlich.
Bei manchen Menschen ist also die Wahrnehmung von Tönen mit Farbempfindungen verbunden; sie hören Farben. Ihre akustischen und optischen Sensorien sind offenbar so eng durch Assoziationsfasern verschaltet, dass bestimmte akustische Eindrücke von ebenso bestimmten optischen Vorstellungen begleitet werden. – So kommt es, dass Musiker und Komponisten mit der Gabe der Synästhesie Musik farblich beschreiben. Robert Schumann beurteilte die Sammlung von Musikstücken eines Kollegen, dass die hervorstechendste Farbe der ganzen Sammlung ein „gemütliches Blau“ sei, und dass der Komponist nur selten grellere und grauere zu seinen Stücken nehme. Ein ähnlicher Ausspruch ist vom Dirigenten Hans von Bülow überliefert, der seinem Orchester vom Pult aus zurief: „Röter spielen!“ Alexander Skrjabin und Nikolai Rimsky-Korsakow waren der Meinung, dass E-Dur blau sein müsse, lediglich über den genaueren Farbton konnten sie sich nicht einigen, wie auch nicht bei anderen Tonarten: für den einen rosa, für den anderen grün. Rimsky-Korsakow war der Auffassung, dass die Note F grün sei. Seine Farbassoziation beruhte darauf, dass er diesen Ton häufig in pastoraler Musik verwendete und dabei stark an grüne Blätter und Gras erinnert wurde.
Ein Synästhet war vermutlich Franz Liszt, der einer Anekdote zufolge bei einer Orchesterprobe ähnlich wie Bülow verlangte: „Ein bisschen blauer, wenn es gefällt! Die Tonart erfordert es.“ Oder, ein andermal: „Dieser Ton ist dunkelviolett, meine Herren, und nicht so rosa, glauben Sie mir!“. Mehr Hinweise auf seine Gabe habe ich nicht gefunden; Liszt wird aber morgen wegen seiner engen Beziehung zur bildenden Kunst behandelt werden.
Auch für Jean Sibelius existierte eine mysteriöse, verrückte Verbindung zwischen Klang und Farbe. Alles was er sah evozierte eine Empfindung in seinem Ohr; und alles was er hörte fixierte eine Farbvorstellung in seinem Auge. Sibelius war ein Genießer, dessen synästhetisches Empfinden Klänge, Farben, Düfte und Geschmäcke betraf. So war eine Rotweinsauce erst dann optimal und genügend „melancholisch“, wenn sie eine „fröhliche rote Farbe in C-Dur“ aufwies. Aus Furcht vor Verspottung äußerte er sich aber nur selten über seine Veranlagung.
Eine Doppelbegabung als Komponist und Maler war der Litauer Mikalojus Konstantinas Čiurlionis, der sowohl in seinem musikalischen als auch bildnerischen Schaffen in Zyklen arbeitete. Das signifikanteste Beispiel eines Themas, das in beiden Genres abgehandelt wurde, ist die „Meeressonate“, wobei sich Musik und Malerei in ihrem Charakter und ihrer Struktur entsprechen. Im Bild sehen wir das Finale mit einer Riesenwelle, die sowohl Schiffe als auch die Initialen des Künstlers verschlingt, womit er die Katastrophe seines eigenen Todes vorwegnimmt. Den Zyklus hatte er in einem tageslichtlosem Raum gemalt. Er hatte sich selbst als Synästhetiker bezeichnet; auffällig in seiner Malerei ist die Abwesenheit der Farbe Rot. Musikalisch ist in großer klanglicher Auffächerung die sich überschlagende, rollende Woge gestaltet, die man im Notenbild auch grafisch wahrnehmen kann. –
Musik: kurzer Ausschnitt aus der „Meeressonate“, Suyang Kim (Klavier)
Der Maler Wassily Kandinsky war von der Möglichkeit des Farbenhörens überzeugt und hatte diese Fähigkeit in hohem Maß. Er schilderte in seinen „Rückblicken“ frühe Eindrücke von Musik, die auf eine synästhetische Begabung hinweisen; noch vor seinem Entschluss Maler zu werden, empfand er Wagners Musik als Farbphänomen. Kandinsky beschäftigte sich intensiv mit Analogien zwischen Klangfarbe und Farbton, wobei er die wesentlichen Farbtöne mit bestimmen Instrumenten in Zusammenhang brachte: Das Gelb mit dem Trompeten- oder Fanfarenton, das Orange mit der Bratsche, das Rot mit der Tuba oder Trommel, das Violett mit dem Fagott, das Blau mit dem Cello, der Bassgeige oder Orgel, und das Grün mit gedehnten, meditativen Tönen der Geige. Diese Farben orchestriert er in seinem Bild „Impression III (Konzert)“ von 1911, das er unter dem Eindruck eines Konzertes von Arnold Schönberg malte. Die beherrschenden Farben Gelb und Schwarz gehen auf synästhetisches Farbempfinden zurück, das Kandinsky genau beschrieb: (Zitat): „Diese Eigenschaft des Gelben, welches große Neigung zu helleren Tönen hat, kann zu einer dem Auge und dem Gemüt unerträglichen Kraft und Höhe gebracht werden. Bei dieser Erhöhung klingt es, wie eine immer lauter geblasene scharfe Trompete oder ein in die Höhe gebrachter Fanfarenton … Wie ein Nichts ohne Möglichkeit, wie ein totes Nichts nach dem Erlöschen der Sonne, wie ein einziges Schweigen ohne Zukunft und Hoffnung klingt innerlich das Schwarz. Es ist musikalisch dargestellt wie eine vollständig abschließende Pause.“ (Zitat Ende). Die Malerei Kandinskys wurde vom zeitgenössischen Publikum eher hilflos aufgenommen. Ein Kritiker warf ihm vor, nicht mehr „richtig“ zu malen, sondern nur noch schlechte Musik zu produzieren. Nur wenige bemerkten, dass die Bilder bei genauerer Betrachtung zu klingen beginnen wie Farbenmusik.
Unter dem Einfluss von Kandinsky wendete sich Arnold Schönberg intensiv der Malerei zu, was bei den Malerkollegen im Umkreis des Blauen Reiters nicht unbedingt auf positive Resonanz stieß. August Macke beschrieb die Malerei des Komponisten als „grünäugige Wasserbrötchen mit Astralblick“. Jedenfalls mündete Schönbergs Beschäftigung mit Farben, Formen und deren Assoziationen in der Musik in das Drama „Die glückliche Hand“, wobei er der Farbentheorie seines Freundes Kandinsky weitgehend folgt. So notiert Schönberg im Farbensturm des „Windcrescendo“ eine für einen Komponisten originelle Anweisung in der Partitur: (Zitat): „Es beginnt mit schwach rötlichem Licht, das über Braun in ein schmutziges Grün übergeht. Daraus entwickelt sich ein dunkles Blaugrau, dem Violett folgt. Dieses spaltet ein intensives Dunkelrot ab, das immer heller und schreiender wird, indem sich, nachdem es Blutrot erreicht hat, immer mehr Orange, dann hellgelb hineinmischt, bis das gelbe schreiende Licht allein bleibt.“ (Zitat Ende).
„Wenn ich Musik höre, sehe ich Farben“ bekundete auch Olivier Messiaen, der ein „echter“ Synästhetiker war, der sowohl bei Klängen Farben sah, als auch bei Farben Klänge hörte, und der seine Wahrnehmungsmuster manchmal als Farb- und Formbeschreibungen in die Partituren notierte, wie in seinem Orgel-Stück „Hirten“, wo er den Eindruck eines Kirchenfensters beschreibt, welches aus „blau-violetten, roten, goldenen und silbernen Farbflecken“ besteht. Er hatte immer wieder nachdrücklich seine synästhetischen Assoziationen betont und wies selber darauf hin, sein ganzes Leben ein Musiker der Klangfarben gewesen zu sein. Er hatte auch sein persönliches Farberleben höchst poetisch geschildert: (Zitat): „Mein heimliches Verlangen nach feenhafter Pracht in der Harmonie hat mich zu diesen Feuerschwertern gedrängt, diesen jähen Sternen, diesen blau-orangenen Lavaströmen, diesen Planeten von Türkis, diesen Violett-Tönen, diesem Granatrot wuchernder Verzweigungen, dieser Wirbel von Tönen und Farben in einem Wirrwarr von Regenbögen.“ – Oder, anderes Zitat: „Die Form des Werkes hängt gänzlich von den Farben ab, von den melodischen und rhythmischen Themen, dem Komplex der Töne und der Klänge, sie entwickeln, je nach der Art der Farben ein leuchtendes Funkeln an der Sichtbarkeitsgrenze.“ (Zitat Ende). Er war auch überzeugt, dass alle, die seine Musik hören, Farbempfindungen haben würden. Er verwendete sein Farbsystem auch als musikalisches Ordnungssystem und schrieb beispielsweise in seine Klavierstücke „Huit Préludes“ fast ausschließlich Farbangaben in die Partitur. Messiaen hatte sich auch von der Malerei inspirieren lassen, zum Beispiel vom surrealistischen britischen Maler Roland Penrose, dessen Bild „Seeing is Believing“, das für das zehnte Lied „Oiseau d'Etoile“ und als Motto für den gesamten Zyklus „Harawi“ Pate stand, wie der Komponist bei Werkeinführungen immer wieder erwähnte.
Aus den 8 Prelüden hören wir das Stück über die Taube (Klavier)
Die Gabe der Synästhesie ist aber nicht nur bei Musikern zu finden, sondern auch bei Literaten, wie zum Beispiel bei Arthur Rimbaud, der jedem Selbstlaut eine Farbe und eine Form zuwies. So beschrieb er z.B. das A als ein „schwarzes haariges Korsett aus lauten Fliegen“. Vladimir Nabokow bringt ebenfalls sprachliche Laute mit Farbtönen und Gegenständen in Verbindung. Mit seinen Worten: „Das hafermehlfarbige n, das nudelgetönte l und der mit Elfenbein verzierte Handspiegel des o kümmern sich um die Weißtöne. In der blauen Gruppe ist das stahlfarbene x anzuführen, das gewittrige z und das heidelbeerfarbene k.“
Zur Einstimmung auf den Parade-Synästheten unter den Komponisten hören wir von György Ligeti einen Ausschnitt aus „musica ricercata“ (Klavier)
Die eben gehörte Musik war die Einleitung zu György Ligeti, der ein echter Synästhet war, der vor allem Harmonien in unterschiedlichen Farben wahrnahm. Er assoziierte nach eigener Aussage Klänge mit Farben und Formen: Dur-Akkorde waren für ihn rot oder pink, Moll-Akkorde irgendwo zwischen grün und braun. „Ich bin sehr stark synästhetisch veranlagt“, gestand er in einem Interview: „ich verbinde Bilder, Farben und Formen mit Bewegungen und Musik. Ich habe auch ein ganzes System mit Verbindungen zwischen Buchstaben und Farben und Zahlen.“ Sogar abstrakte Betriffe wie Quantitäten, Beziehungen, Zusammenhänge und Vorgänge erschienen ihm versinnlicht in einem imaginären Raum. In seiner Vorstellungswelt muss einiges los gewesen sein, wenn man seiner Erklärung folgt (Zitat): „Klänge und musikalischer Zusammenhang wecken bei mir stets Vorstellungen von Konsistenz und Farbe, von sichtbarer sowie erkennbarer Form. Klingende Felder und Massen, die zusammenfließen, einander ablösen oder durchdringen, schwebende Netzwerke, die zerreissen oder sich verknoten – feuchte, klebrige, schwammige, faserige, trockene, brüchige, körnige und kompakte Materialien – Fäden, Floskeln, Splitter und Spuren aller Art – imaginäre Bauwerke, Labyrinthe, Inschriften, Texte, Dialoge, Insekten, Zustände, Ereignisse, Verschmelzung, Verwandlung, Katastrophe, Verfall, Verschwinden – all dies sind Elemente dieser nichtpuristischen Musik.“
Von Ligeti hören wir von Manuel von der Nahmer den ersten Satz aus der Sonate für Violoncello solo, ein fast neoromantisches Frühwerk, das zwischen 1948 und 1953 entstand und in dem der „Volkston“ Bartóks noch erkennbar ist.
Auch für das Bestreben der Kunst, in Form von „Gesamtkunstwerken“ Genregrenzen zu überschreiten und mit ihren Werken möglichst viele Sinne anzusprechen, wird gerne der Begriff Synästhesie verwendet. Ob es sich dabei tatsächlich um eine solche handelt ist fraglich, weil es sich zumeist nur um Akkumulationen diverser Medien und Genres handelt.
Bis ins 18. Jahrhundert war die Zuordnung von Farben und Tönen in Lehrbüchern der Optik zu finden. Bereits 1650 erforschte der Universalist Athanasius Kircher in seiner Schwingungstheorie des Lichts Zusammenhänge zwischen musikalischen Intervallen mit Farben, wobei er die Oktave weiß, den Ganzton schwarz, den Tritonus blau, die kleine Terz gelb und die Quarte rosa klassifizierte. Die Eigenschaft der Farben als ätherische Lichtwellen und ihre Beziehung zu den akustischen Schallwellen führte später zu Ideen und Erfindungen von Instrumenten, die gleichzeitig Farben und Töne gleichzeitig produzieren sollten. Auf das Farbklavier des Jesuiten Bertrand Castel folgten Augen-Cembalo, Pyrophon und Lichtorgeln, die das Ziel mit den jeweils verfügbaren technischen Mitteln verfolgten.
Das Musterbeispiel, das in Verbindung mit synästhetischer Ton-Farbe-Beziehung erwähnt wird, ist der „Promethée“ von Alexander Skrjabin. Analysen haben jedoch ergeben, dass dessen Theorien mit synästhetischer Praxis wenig bis gar nichts gemein haben: Die Zuordnung der Tonarten im Quintenzirkel gleicht dem Farbspektrum, entspringt also einer bewussten Entscheidung und ist eine assoziativ-imaginative Leistung, die im Widerspruch zu den eben nicht nachvollziehbaren Empfindungen der Synästhetiker steht. Mit der Symphonie „Prométhée“ betrat er den Raum eines Gesamtkunstwerks, in dem sich Musik, Farben, Wortelemente und Philosophie vereinen sollten. Für die Aufführung sah er ein Farbenklavier vor, um die „Luce“-Stimme in farbige Lichtprojektionen umzusetzen. Die Partitur sieht eine zweistimmig notierte Luce-Stimme vor und ordnet jedem Klang eine Farbe zu: so ist das C intensiv rot, das G orange-rosa, das D gelb, das A grün, E blau-weißlich usw.. Zugleich wird jedem Farbton ein Ausdrucksgehalt zugeschrieben: Beispielsweise vertritt das intensive rot von C den Willen, das Blau von H die Kontemplation, das Gelb von D die Freude, der stahlartige Glanz von B die Leidenschaft.
Musik: von Skrabin die Etüde op. 2 Nr. 1, die er mit 15 Jahren komponierte (Klavier).
Ausgehend von der geistigen Identität des Seh- und Höraktes fasste Josef Matthias Hauer Farbe und Klang als analog auf und nahm damit eine Analogie von Raum und Zeit an, wobei das Musikalische ebenso als Bewegung gedacht wird, wie sich eine Farbe nicht als stillstehend betrachten lässt, wie es die Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte beschreibt. Hauer greift auf Goethes Farbenlehre zurück, indem er der kreisförmigen Bewegung der Farben die Verhältnisse von Intervallen im Quintenzirkel anlegt. So verwendete er beispielsweise Farben, um in der von ihm entwickelten Notenschrift, die ohne Schlüssel auskommt und wie eine Klaviertastatur zu lesen ist, die verschiedenen Stimmverläufe von Sopran (grün), Alt (gelb), Tenor (blau) und Bass (rot) sichtbar zu machen. Mit seinem geplanten sogenannten „Zwölftonteppich“ versuchte er eine „Farbenharmonie, mit einer Mannigfaltigkeit bei denkbar größter Eindringlichkeit, ein Bild, das kein Maler auszudenken imstande wäre“, wie er in einem Brief schreibt. Das Bildbeispiel zeigt seinen Entwurf zum Zwölftonspiel für fünf Violinen von 1950.
Musik: Ausschnitte aus den 7 kleinen Stücken op. 3 und op. 25 von Hauer.
Die künstlerische Synthese von Farben, Musik, Licht, Bewegung ist auch das Bestreben des Komponisten Iwan Wyschnegradsky; mit seinen eigenen Worten: „Das Endziel besteht für mich in der Idee eines Werkes, das die Verbindung aller Künste realisiert und das in der Lage ist, den heilsamen Schock hervorzurufen, der bei den Menschen die Kräfte des kosmischen Bewusstseins, die im tiefsten Unterbewusstsein eines jeden Menschen schlummern, wecken würde.“ Als Nichtmusiker kann ich nicht sagen, wie das Kompositionsprinzip mit Permutationen und Reihen funktioniert; ich kann nur wiedergeben, dass die Farbe bei Wyschnegradsky ein Anschauungsmittel für einen tönenden Kosmos ist, der in allen Richtungen nach einem gleichen Prinzip organisiert ist, der – und das ist die Frage – musikalisch zwar vorstellbar, akustisch aber nicht realisierbar ist?
Zum Schluss möchte ich zum morgigen Vortrag über die Beziehungen zwischen Musik und Bild überleiten, und kurz zu Claude Debussy kommen, der ein intensives Verhältnis zur Malerei hatte. Die Freiheit zum Entwurf einer neuen Klangwelt fand er eher im Medium der Malerei vorgezeichnet als im damaligen Genre der Musik. Als Paradebeispiel gilt sein berühmtes Klavierstück „L'isle joyeuse“ (Die Insel Jersey) von 1904, das zu den populärsten impressionistischen Werken zählt und das vom Gemälde „Einschiffung nach Kythera“ von Antoine Watteau angeregt wurde. Kythera ist in der griechischen Mythologie die Insel des Glücks und der sinnlichen Erfüllung. Debussy schrieb das Stück auf der britischen Insel Jersey, das für ihn ein Refugium war, wohin er mit seiner Geliebten Emma Bardac aus Paris geflohen war. Auch wenn das Bild vielleicht als Auslöser für das Musikstück fungierte, darf dies nicht illustrativ aufgefasst werden; Debussy geht es nur um die Stimmung einer arkadischen, traumhaften Wunschwelt. Über rein illustrative, nachahmende Vertonungen oder Programmmusiken zum Beispiel von Richard Strauss oder Hector Berlioz hatte er sich sogar lustig gemacht.
Aber mehr zum Musik-Bild-Thema dann morgen früh. Morgen Abend dürfen wir ja Debussys Streichquartett hören, insofern passt das Beispiel ganz gut. Und außerdem nützen wir die Anwesenheit von Manuel von der Nahmer, der uns zusammen mit Suyang Kim den ersten Satz aus der Sonate für Cello und Klavier in d-Moll von Claude Debussy hören lässt. – Das letzte Wort – besser gesagt den letzten Ton – hat die Musik. – Danke für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.
Vortrag 2: Musik und Bild
Heute behandeln wir die Beziehungen zwischen Musik und Bild und begeben uns in ein überraschend weites Feld an Beispielen. Überraschend deswegen, wenn man bedenkt, dass hier zwei unterschiedliche Genres zusammenkommen: Das Unsichtbare und das Sichtbare – jenes der zeitbasierten der Musik und jenes der räumlichen der bildenden Künste, die sich gegenseitig befruchten. In der Musik werden oftmals visuelle Begriffe herangezogen, wenn es gilt, musikalische Ereignisse zu beschreiben: So ist die Rede von schwebenden Melodien, spitzen Klängen, aufgetürmten Akkorden, rhythmischen Säulenordnungen usw.. Auch werden visuelle Ereignisse mit musikalischen Mitteln evoziert, wie Flammen, Gewitter, Wasser usw.. Die Umwandlung visueller Eindrücke in Musik hat eine jahrhundertelange Tradition; erstmals wahrscheinlich bei Monteverdi, der das Zittern im Zorn mit einem Tremolo veranschaulichte. In der bildenden Kunst hingegen finden wir Klangassoziationen wie Sinfonie, Klang, Komposition oder Chromatik erst ab dem 19. Jahrhundert und mit dem Aufkommen der abstrakten Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Ein frühes Beispiel für musikalische Werke, die von Gemälden angeregt wurden, ist ein Werk aus den Symphonischen Dichtungen von Franz Liszt, der sich 1857 vom monumentalen Bild „Die Hunnenschlacht“ des Hofmalers König Ludwig I. Wilhelm von Kaulbach inspirieren ließ. Das Gemälde handelt vom im Namen des Kreuzes geführten Kampfes der Römer gegen die Hunnen, dessen Spektakel in den Lüften stattfindet. Liszt stellt mit dem Choral „Crux fidelis“ den Sieg des Kreuzes in den Mittelpunkt seiner Komposition, die an zwei Klavieren direkt vor dem Gemälde aufgeführt wurde. Der Maler allerdings hielt nicht viel von der Musik, die ihm als zu dissonant erschien. Der gefürchtete Kritiker Eduard Hanslick hielt gar nichts von den Symphonischen Dichtungen Liszts, denen er vorwarf, „an den Rockzipfeln eines berühmten Dichters oder Malers zu hängen und selber flügellahm zu sein“. Neben Kaulbach ließ sich Liszt von einem Fresko des Francesco Traini aus dem 14. Jahrhundert, das den Triumph des Todes darstellt und von Liszt als Grundlage für seine Komposition „Totentanz“ für Klavier und Orchester 1865 diente. Das Fresko zeigt eine Überfülle an dramatischen Elementen, wo teuflische Unwesen mit menschlichen Gestalten kämpfen.
In seiner „Legende Nr. 2 für Klavier“ deutete Liszt eine Zeichnung des Heiligenmalers Eduard Steinle, der den „Hl. Franziskus von Paula auf den Wogen schreitend“ darstellt. (Den gezeigten Stich nach Steinle hatte Gustave Doré dem Komponisten gewidmet). In der Komposition entsteht der Eindruck eines ununterbrochenen ruhigen Schreitens in Vierteln; nur die unterschiedliche Phrasierung macht sie etwas unruhig und schwankend. Dazu kommt ein sanft anplätscherndes Tremolo, das sich im Verlauf des Stückes zu einem immer höher hinaufwogenden Bewegungsvorgang steigert.
Die „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgsky dürfen in unserer Aufzählung natürlich nicht fehlen. Inspiriert wurde das Werk durch Aquarelle und Zeichnungen seines Freundes Victor Alexandrowitsch Hartmann. Der Komponist schuf aber keine musikalischen Illustrationen zu den Bildern, sondern bezog sich auf szenische Aspekte. So wurde aus der Architekturskizze des alten Schlosses das Lied eines Troubadours; die Katakombe wurde zu einem Requiem und mystischer Kommunikation mit dem toten Freund; oder der Marktplatz von Limoges wird belebt vom Gewirr der schreienden Verkäufer und streitenden Marktfrauen; und im Großen Tor von Kiew vermittelt der Komponist die majestätische Größe des Tores und treibt das Geläut der Glocken zum Schluss bis zum lärmenden Getöse. In den Zwischenstücken der Promenaden stellt sich Mussorgsky selbst dar, wie er zwischen den Ausstellungsstücken umherwandert.
40 Jahre später unternimmt der Maler Wassili Kandinsky die erneute Rückübersetzung der Musik in Bilder für eine Bühnenkomposition. Seine eigenen Vorstellungen beim Hören der „Bilder einer Ausstellung“ stellte er in abstrakte, bewegte farbige Formen dar. Nur in der Szene zum „Großen Tor von Kiev“ sind Anklänge an Gegenständlichkeit zu bemerken.
Über Claude Debussy ist zwar gestern schon gesprochen worden; ich möchte aber heute noch das Beispiel von Katsushika Hokusai bringen, dessen Holzschnitt „Die große Welle vor Kanagawa“ den Komponisten zu seinem Stück „La Mer“, drei symphonische Dichtungen für Orchester inspirierten. Das Publikum der Uraufführung 1905 war enttäuscht, kein Meeresrauschen zu hören, aber Debussy ging es eben nicht um illustrative Tonmalerei, sondern wollte vielmehr den Charakter des Meeres einfangen: die ungestüme Brandung, die salzige Seeluft, die ewig wiederkehrenden Wellen. Motivische Gebilde fluten hinein und gehen wieder, es herrscht ein scheinbar unendliches Auf und Ab der Klänge.
Im Klavierstück „Estampes“ ließ Debussy eine poetische Welt aus Landschaften in fernen Ländern entstehen und sich unter anderen von William Turner anregen, dessen Bilder er schätze und den er als „vollkommenen Schöpfer von Geheimnis in der Kunst“ bezeichnete.
Musik: Aus den Estampes spielt Suyang Kim „La Soirée dans Grenade“
Ein einziges Mal hatte sich auch Gustav Mahler von einem Bild inspirieren lassen: Im dritten Satz seiner Ersten Symphonie holte er sich Anregungen von einem Kinderbild; einem Holzschnitt von Moritz von Schwind mit dem Titel „Des Jägers Leichenbegängnis“. Mahler äußerte sich selber darüber (Zitat): „Zur Erklärung diene, wenn notwendig, folgendes: Die äußere Anregung zu diesem Musikstück erhielt der Autor durch das in Süddeutschland allen Kindern wohlbekannte parodistische Bild 'Des Jägers Leichenbegängnis' aus einem alten Kindermärchenbuch: Die Tiere des Waldes geleiten den Sarg des verstorbenen Försters zu Grabe; Hasen tragen das Fähnlein, voran eine Capelle von böhmischen Musikanten, begleitet von musizierenden Katzen, Unken, Krähen usw. und Hirsche, Rehe, Füchse und andere vierbeinige und gefiederte Tiere des Waldes geleiten in possierlichen Stellungen den Zug. An dieser Stelle ist das Stück als Ausdruck einer bald ironisch-lustigen, bald unheimlich-brütenden Stimmung gedacht, auf welche dann sogleich Dall'Inferno al Paradiso (Allegro furioso) folgt, als der plötzliche Ausdruck eines im Tiefsten verwundeten Herzens.“ (Zitat Ende).
Der spanische Komponist Enrique Granados schrieb mit den „Goyescas“ eine hoch virtuose Suite für Klavier mit sechs Szenen nach Francisco de Goya mit dem Titel Los majos enamorados – also „Die verliebten Kavaliere“. Die Goyescas beschwören ein Spanien der Goya-Zeit am Ende des 18. Jahrhunderts herauf, galant und sinnlich, aber auch melancholisch und düster. Als thematische Klammer dient das Leben junger Verliebter, das mit seinen Freuden und Leiden geschildert wird.
Ein beliebtes Motiv bei Komponisten war das Gemälde „Die Toteninsel“ von Arnold Böcklin. Neben Bohuslav Martinu, Max Reger und vielen anderen soll hier Sergej Rachmaninov erwähnt werden, dessen Tondichtung „Die Toteninsel“ für Orchester op. 29 vom Böcklin'schen Werk beeinflusst wurde. Rachmaninov sah eine Schwarz-Weiß-Abbildung in Dresden in einer Phase melancholisch-elegischer Gemütsverfassung; es ist also kein Wunder, dass er sich ausgerechnet von diesem Gemälde angezogen fühlte, das übrigens von einer jungen Witwe in Auftrag gegeben wurde, die sich ein „Bild zum Träumen“ gewünscht hatte. Die düstere Erhabenheit war jedenfalls ebenso charakteristisch für den Maler wie für den Komponisten.
Ein Klassiker in der Bild-Musik-Beziehung sind wohl die Symphonie und die Oper „Mathis der Maler“ von Paul Hindemith, wo sich der Komponist mit dem Leben des Renaissance-Künstlers Matthias Grünewald auseinandersetzt, vor allem mit dem Isenheimer Altar, dessen Tafeln in szenische musikalische Bilder umgesetzt werden. In der Symphonie schildert Hindemith die Tafeln „Engelkonzert“, „Grablegung“ und „Versuchung des Hl. Antonius“, später gliedert sich die Oper in die sieben Altarbilder. Von Grünewalds expressive Darstellungen auf dem Isenheimer Altar empfing Hindemith starke Anregungen, die er in der Oper auch literarisch und szenisch umsetzte. In der „Versuchung des Hl. Antonius“ thematisiert Hindemith das Künstlertum im Bezug auf seine politische Stellung, was ihm von den Nationalsozialisten den Eintrag in die Kategorie der „entarteten Musik“ einbrachte und ihn letztlich in die Emigration zwang.
Der Komponist Hans Erich Apostel war in den 1940er Jahren fasziniert von den Arbeiten Alfred Kubins, der ihm eine Reihe von Zeichnungen widmete, für die Apostel eine Serie von 10 Klavierstücken mit dem Titel „Kubiniana“ schrieb. Eine zweite Serie bezieht sich auf 60 Porträtzeichnungen der Mappe „Abenteuer einer Zeichenfeder“, zu denen Apostel analog zu den Köpfen kleine musikalische Gebilde „60 Schemen“ komponierte, die oft nur einige Takte lang sind, aber im höchsten Maße konzentriert. Apostel setzt die gezeichneten, oft karikaturhaften Charaktere musikalisch ganz realistisch in Noten um, zum Beispiel beim keifenden Uniformierten, bei dem die Musik nichts anderes zu tun hat, als Schreie akustisch zu stilisieren.
Musik: Aus den „60 Schemen“ und den „Kubiniana“ einige Beispiele. (1:30)
Es ist wohl nicht verwunderlich das die „Zwitschermaschine“ von Paul Klee von einigen Komponisten als Anregung für musikalische Interpretationen genommen wurden. Herausgegriffen sei das Orchesterstück des jungen Peter Maxwell Davies, der sich fünf Blätter Klees zum Vorbild genommen hatte, darunter natürlich auch die Zwitschermaschine. Davies schrieb die Suite als Musiklehrer für seine Schüler Ende der 1950er Jahre und überarbeitete sie 1976 völlig neu. Das „Zwitschern“, das jedes Publikum hört, hat all die Vielfalt und zugleich all die grundlegende Monotonie der vereinfachten Vögel, die Klee gezeichnet hat. Das Repertoire der Stimmen, das durch den Mechanismus der Ostinato-Gruppen nach und nach eingefangen wird, besteht aus wenigen Tönen, die mit allerlei Variationen unzählige Male wiederholt werden. Drehen sich die Zahnräder erst einmal, so ziehen sie einen Vogelruf nach dem anderen in ihre Kreiselbewegung und gewinnen zunehmend an Geschwindigkeit und Intensität, bis alle verfügbaren Stimmen in einer wirbelnden Bewegung gefangen sind.
Das waren jetzt nur ganz wenige Beispiele von vertonten Gemälden. Für den Katalog zur Ausstellung „Vom Klang der Bilder“ in der Staatsgalerie Stuttgart 1985 hat Klaus Schneider ein Gesamtverzeichnis der Kompositionen des 19. und 20. Jahrhunderts erarbeitet. Das Register zählt 426 Stücke auf, die nach Werken bildender Kunst geschrieben wurden. Die beliebtesten sind Dürer, Breughel, Goya, Spitzweg, Böcklin, Picasso und Klee.
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Umgekehrt hat mindestens so viele Beispiele hat die Kunstgeschichte von bildenden Künstlern zu verzeichnen, die sich an musikalischen Kompositionen, Analogien oder Themen orientierten. – Bereits der Dichter Horaz beschrieb die Malerei ja als eine stumme Musik.
Ein frühes Beispiel, das sowohl Kunsthistoriker wie Musikwissenschaftler beschäftigen kann, ist die Darstellung der singenden Engel von Jan van Eyck im Genter Altar. An der Mimik der Engel lässt sich ihre Stimmlage ablesen, welcher von ihnen hoch und welcher tief singt. Für die Musikologin Helga de la Motte-Haber evoziert das Gemälde klingende Eindrücke durch eine mimisch-motorische Ansteckung, das heißt, wir können uns durch den Anblick des Bildes den Klang der Stimmen vorstellen.
Von Moritz von Schwind stammt auch das Gemälde in der Alten Pinakothek, das den Titel „Die Symphonie“ trägt und der Phantasie für Klavier, Chor und Orchester op. 80 von Beethoven zugeeignet ist. In der Basis des Bildes sehen wir einen klassizistischen Konzertsaal mit einer Beethoven-Büste im Hintergrund. Die Besetzung ist getreulich wiedergegeben, allerdings mit fiktivem Personal, wie etwa Schubert links außen, oder Franz Lachner als Dirigenten (mit beiden war der Künstler befreundet). Selbst hat sich Schwind bescheiden in der Rolle des Umblätterers verewigt. Der Kritiker Eduard Hanslick kommentierte das Gemälde einigermaßen freundlich: (Zitat): „Gerade so wie der Maler Szenen und Gestalten aus den Tönen heraussieht, so legt der Zuhörer Gefühle und Ereignisse hinein. Beides hat damit einen gewissen Zusammenhang, aber keinen nothwendigen und nur mit diesem haben es wissenschaftliche Gesetze zu tun“ (Zitat Ende.) Dem Freund und Violinvirtuosen Joseph Joachim widmete Moritz von Schwind dieses humoristische Blatt mit der „Katzensymphonie“, die er dem Musikverleger Senff zur Publizierung antrug mit der Bemerkung (Zitat): „dieser kühne Versuch, ein ausdrucksvolleres, durchgeistigteres Notensystem an die Stelle des veralteten, einem überwundenen Standpunkt angehörigen, pedantischen und zopfigen Schreiberwesen zu setzen.“ (Zitat Ende). Der „Hexenmeister auf der Geige“, wie Schwind Joachim nannte, musste allerdings gestehen, dass er die ihm gewidmete Sonate nicht imstande sei zu spielen.
Gleich 41 grafische Blätter widmete Max Klinger den „Brahmsphantasien“ in einem Zyklus, der zusammengesetzt 26 Meter lang ist. Vor allem das „Schicksalslied“, das den Prometheus-Mythos behandelt, erhielt eine ganze Reihe von Zeichnungen und Randleisten. Durch das versöhnliche Nachspiel der Brahms'schen Komposition deutete Klinger den Mythos um, indem er die Befreiung von Prometheus darstellte. Brahms zeigte sich ergriffen von der Schönheit der Blätter: „Wenn ich sie betrachte, ist mir, als klinge die Musik unendlich weiter und als drücke sie alles aus, was ich sagen wollte, nur ist es hier klarer und doch immer noch geheimnisvoll“, schrieb er in einem Brief an den Künstler. Und weiter: „Bisweilen beneide ich Sie um die Klarheit Ihres Bleistifts. Bisweilen bin ich froh, dass ich es nicht bin. Doch letztendlich denke ich, dass jede Kunst dasselbe ist und sich mittels derselben Sprache ausdrückt.“ Ein Jahr vor seinem Tod widmete Brahms dem Künstlerfreund Klinger die „Vier letzten Gesänge“. 1914 versuchte man erstmals in Wien, Musik und Bild zusammenzubringen, indem zu einer Aufführung der Liedkompositionen von Brahms den Zyklus von Klinger als Lichtbilder projizierte.
Musik: Johannes Brahms: „Lerchengesang“
Die futuristischen Künstler verfolgten eine vitalistische Malerei und den Ausdruck der Gesamtheit der Empfindungen, die Vision einer Totalität, die oft durch das fantastische, polyphone Schauspiel der bewegten Stadt ausgelöst wurden. Beispielsweise stellt Luigi Russolo eine musikalische Empfindung im Gemälde mit dem Titel „Die Musik“ dar, mit melodischen, rhythmischen harmonischen, polyphonen und chromatischen Eindrücken. Die verschieden kolorierten Masken bilden malerische Akkorde als Reflexe von Resonanzen und musikalischen Klangfarben. Aus einem ungeheuren Klavier zieht er einen Tumult aus Klängen, Rhythmen und Akkorden, der Musiker ist dem Ansturm der Inspiration ausgeliefert: (Zitat): Wie plötzliche Meteore, die sich an ihrem Aufschwung einfinden, versammeln sich heitere, lachende oder groteske Masken, die sich mischen und zu harmonischen oder komplementären Akkorden aus lebhaften Farben übereinander schichten: dergestalt die unbestimmten Gefühle, wie sie der Musik eigen sind, durch bestimmte menschliche Ausdrucksgestalten verkörpernd.“ (Zitat Ende) Als Musiker erfand Russolo die Geräuschmusik, indem er das Recht des Musikers auf alle Geräusche als Formen konkreten klanglichen Ausdrucks geltend machte, die dem „aristokratischen Idealismus der Belcanto-Koloraturen und der Gefühlsabstraktion der Geigennoten bürgerlicher Konzerte entgegenzusetzen seien“, wie er forderte.
Ein anderes Beispiel zeigt Umberto Boccionis Gemälde „Der Lärm der Straße dringt ins Haus“, das die Intensität der Geräusche eines Straßenschauspiels darstellt, die Konfrontation mit dem eindringenden Lärm, der gewissermaßen mit scharfen Splittern ins Ohr dringt. „Wenn man das Fenster öffnet, brechen der Lärm der Stadt, die Bewegung und die Materialität der Dinge draußen plötzlich ins Zimmer ein“, erklärte Boccioni sein Gemälde. Die Polyphonie der Geräusche, die Lichtwirkungen, die Gerüche und bewegten Formen der Straße brechen in den Bildraum ein.
Besonders auffällig ist die Bezugnahme auf die Bach'sche Fuge in Werken der bildenden Künste in der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Abstrakten, Kubisten, Futuristen, Expressionisten, Konstruktivisten – die Beispiele sind kaum zu überblicken. Das musikalische Konstruktionsprinzip polyphoner Mehrstimmigkeit, das Wechselspiel von Bewegungen, Gegenbewegungen, Spiegelungen und Umkehrungen regte vor allem viele Maler an, ihre Bilder nach diesem Vorbild mit polyphonen Farbkompositionen zu gestalten. Einige signifikante Beispiele möchte ich Ihnen en passant zeigen:
George Braque bezog sich in seinen Musikbildern immer wieder auf Bach, wie im Gemälde „Hommage à J.S. Bach“ von 1912, mit dem er eine „absolut polyphone Form wie eine Fuge“ erreichen wollte. In seiner fast durchsichtigen Fugengesetzlichkeit kommt das Bild der Bach'schen Polyphonie durchaus nahe. In diesem Jahr entstand auch das Bild „Fuge in zwei Farben (Amorpha)“ von Franz Kupka, der über seine Ambition aussagte: (Zitat) „Ich tappe noch im Dunkeln aber ich glaube, dass ich etwas zwischen Hören und Sehen finden kann, und ich kann eine Fuge in Farben produzieren wie Bach in Tönen“. (Zitat Ende). Wassily Kandinsky beschrieb die Musik als „Lehrmeisterin der Künste im Gebrauch ihrer je eigenen Mittel und in ihrem Versuch, sich von der Naturnachahmung abzuwenden.“ Sein Bild „Fuga (Fuge, Beherrschte Improvisation)“ von 1914 zeigt sein Suchen in der Malerei nach Rhythmus und nach mathematischer, abstrakter Konstruktion. In der Wiederholung des farbigen Tones bringt er die Farben und Formen in Bewegung. Paul Klee war auch Musiker und Bach-Spieler, der im Gesetz der Fuge immer neue Formanregungen fand. Im Aquarell „Fuge in Rot“ zeigt sich eine Schar von Figurengruppen als heranschwebende Farb- und Formprogressionen in raum-zeitlichen Folgen. Das Bild ist als malerische Umsetzung von Bauprinzipien der Fuge lesbar: die gerundeten und eckigen Formen als Erscheinungen von Thema und Gegenthema, die Wiederholung des Dreieck-Motivs als Umkehrung, die Folge der Ovale als teils rückläufige Bewegung. Dem Titel „Farbige Komposition I“ von August Macke ist in Klammer angefügt: „Hommage an J.S. Bach“. Über sein Verhältnis zur Musik schreibt er: (Zitat) „Was die Musik so rätselhaft schön macht, wirkt auch in der Malerei bezaubernd. Nur gehört eine unmenschliche Kraft dazu, die Farben in ein System zu bringen wie die Noten. In den Farben gibt es geradezu Kontrapunkt, Violin-, Baßschlüssel, Moll, Dur wie in der Musik. Ein unendlich feines Gefühl kann sie ordnen, ohne all dies zu erkennen.“ (Zitat Ende). Anders als Klee betont Macke das Ornamentale und Verschlungene in den Formen. Eine besonders intensive Beziehung zur Bach'schen Fuge hatte Lyonel Feininger, dessen Gemälde die Barfüßerkirche in Erfurt darstellt. Weniger bekannt als seine Malerei ist Feiningers Ambition als Musiker und Komponist. Er äußerte sich über seine Malerei, dass sich seine Bilder immer mehr der Synthese der Fuge näherten. Musik spielte eine fast ebenso große Rolle in seinem Leben wie das Malen. Er schrieb 13 Fugen, die von ihm und Organisten in verschiedenen Kirchen gespielt wurden. Hans Hess schrieb in einem Aufsatz über Feininger (Zitat): „In seinem Gebrauch des kontrapunktischen Denkens – Möglichkeiten der Umkehrung, der Spiegelung, der Überschneidung und Durchdringung, der Gleichzeitigkeit – ist Feininger ein Neuerer in der Malerei, er hätte diese Neuerung nicht mitbringen können, wenn in ihm nicht die Gesetze des Kontrapunktes lebendig gewesen wären. Die Gesetze der Musik kamen in seinen Bildern zum Leben.“ (Zitat Ende). Wie beim Malen, so war auch beim Komponieren sein ganzes Interesse auf das bis in Kleinste genaue Abstimmen der Farb- und Tonklänge gerichtet.
Musik: Einen Eindruck davon bekommen wir mit einem Auschnitt aus der Fuga Nr. 1 vermittelt.
Auch in der russischen Avantgarde spielen musikalische Begriffe und Analogien eine große Rolle. Als Beispiel nehmen wir Michail Matjušin, der sowohl Maler als auch Musiker war und mit der Partitur der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ bekannt wurde. Im Bild sehen wir ein Ölgemälde mit dem Titel „Malerisch-musikalische Konstruktion“, wozu er sich äußerte: „Die reinen Töne der Musik sind auf bestimmte Weise farbig, aber ihre Farbigkeit muss im Chaos aus Licht, Tönen und Geräuschen erst aufgefunden werden und kann nicht aus einer einfachen Analogie der Schwingungen erschlossen werden. Aus den einfachen, zusammengesetzten Tönen muss die kleinste Einheit herauskristallisiert werden; so wie auch die kleinste Farbschattierung, wenn sie mit Hilfe eines Prismas zerlegt wird, ein ganzes Farbspektrum offenbart, so sollte auch jeder Laut der Natur, jeder Ton als Geräusch, seine Tonalität offenbaren.“ Matjušin behauptete auch, dass das menschliche Sehvermögen durch kluge Versuche auf einen Radius von 360° erweitert werden könne, dass latente optische Zentren im hinteren Teil des Kopfes, den Schläfen und den Füßen wiederbelebbar seien. Die Folge davon wäre die Abschaffung der einzigen Richtung.
In der jüngeren Kunstgeschichte sind es Künstler des Informel, bei denen Anklänge und Beziehungen zur Musik finden sind. Als ein Beispiel sehen Sie das Gemälde „Entschwebende Klänge“ von Max Ackermann, der sein Arbeitscredo 1971 zusammenfasste. Hier ein paar Sätze daraus: „Die absolute Musik ist bestrebt, eine Ohrenforderung zu erfüllen. Die absolute Malerei erfüllt die Augenforderung. … Das Absolute ist in beiden Künsten gleich … Es kann ein Umdenken von absoluter Musik auf absolute Malerei stattfinden … Ein Dur-Dreiklang in der absoluten Musik kann eine Parallele in der absoluten Malerei finden. … Hell-Dunkel-Kontraste in der Malerei und im Tonbereich sind verblüffend gleich. … So habe ich neben dem musikalischen Kontrapunkt den Farb-Form-Kontrapunkt“ usw.. Die Malerei hatte jene Loslösung vom Darstellungszweck erreicht, zu der die Musik schon seit der Renaissance gefunden hat, indem sie sich vom Dienst am gesungenen Text befreite und im eigengesetzlichen Spiel mit den Instrumentalklängen „absolute Musik“ wurde, wie ihm der Komponist Wolfgang Fortner bestätigte.
Mit seinem Bild „Satztechnik II“ gelangen 1955 Ernst Wilhelm Nay die ersten konsequenten Beispiele chromatischer Abwandlung einer einzigen Grundform, der farbtragenden Rundform, der aus dem Punkt entwickelten Kreisscheibe in rhythmisch geordneten Relationen. Der Kunsthistoriker Kurt Leonhard hatte zu diesem Bild vermutet, dass damit der alte Wunsch der neuen Malerei, die Zeit nachvollziehbar zu verräumlichen, gelungen sei. (Zitat): „Jetzt erklangen im pulsierenden Flächenraum feinst abgestufte Koloraturen, Klaviaturen, einander diagonal in verschiedenen Stimmlagen überschneidend, in der Richtung polyphone Tonfolgen, staccato, glissando, rubato, auch Akkorde im Tiefensinn verhallend oder vorschnellend, sogar ganze Trommelwirbel und einzelne Paukenschläge – alles dem Fortpflanzungspotential einer einzigen Form entsprungen.“
Eine völlig andere Art, Malerei in Musik zu übertragen, führte der Fluxuskünstler Yves Klein mit der Komposition „Symphonie monoton-silence“ für 20 Stimmen und 32 Instrumente 1961 aus; ein Stück, das gut zu seinen monochrom-blauen Bildern passt. Die Aufführung zur Eröffnung der Ausstellung Yves Kleins musste das Krefelder Städtische Orchester spielen, dessen Dirigent nach kurzer Zeit der Kragen platzte und rief: „Das ist ja gar keine Musik, das ist ja der D-Dur-Akkord. Los, spielt mal eben den D-Dur-Akkord.“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch seitenlang immer nur den D-Dur-Akkord hinschreibt, die Noten des Dreiklangs übereinander und die gleichen Noten immer nebeneinander. Kleins Biograf Paul Wember hat den weiteren Verlauf des Konzertes so beschrieben: „Als es aber dann doch gelang, dass Yves diesen Akkord dirigierte, will sagen, dass die Musiker nach seiner Weisung ansetzten und aushielten, aushalten mussten, minutenlang, und als nach dem Abbruch der Töne die Hände Yves immer noch erhoben blieben, um den gleichen Akkord unhörbar noch im Raum anwesend sein zu lassen, hat sich für manchen Beteiligten doch dieses seltsame Gefühl der monotonen Musik mit der musikalischen Masse eines einzelnen Tones eingestellt, der den Raum merkwürdig beherrscht, der im Raum aufging.“ – Eigentlich wollte ich dieses Stück den Münchner Philharmonikern vorschlagen, es heute für Sie zu spielen; das habe ich mir aber dann doch nicht getraut.
(Über Notation:)
Das Geräuscharchiv im Gehirn speichert eine Unzahl von Tönen und Klängen, um sie bei Bedarf identifizieren zu können. Dazu gehören auch musikalische Melodien, die wiedererkannt und je nach Talent mehr oder weniger gut nachgesungen oder nachgepfiffen werden können. Für das Reproduzieren komplexerer musikalischer Strukturen benötigen wir aber doch wieder das Auge, das dem Ohr behilflich ist, die visuellen Chiffren der Noten in Musik zu verwandeln. Manche Notationen sind optisch höchst wirkungsvoll und von eigenem konzeptuellen Wert. Visuelle Partituren können zugleich Bild und Notation sein, konzipiert, um betrachtet und gespielt zu werden.
Ein frühes Beispiel für eine originelle grafische Notenschrift sind die Partiturblätter der Serie „Sports et Divertissements“ von Erik Satie. 1914 erhält er vom Verlag Salabert den Auftrag, zu 20 Zeichnungen von Charles Martin Musik zu komponieren. (Zuvor hatte Strawinsky den Auftrag wegen zu niedrigen Honorars abgelehnt). Satie schrieb zu jedem Bild ein kleines Gedicht und komponierte kurze Klavierstücke, deren Notenbild in den meisten Fällen optisch die Hauptlinien der Bilder wiedergeben.
Ein besonders hübsches Stück aus dem Zyklus sind „Die vier Katzen“, in dem der Hergang der Geschichte aus der Anordnung der Noten abgelesen werden kann: die vier Mäuse sind durch vier einzelne, durch Viertelpausen getrennte Noten dargestellt. Der Kater ist mit drei zusammenhängenden Noten als eine einzelne Figur charakterisiert. Dann fallen zwischen den Noten der Mäuse die Pausen weg, sie rücken also enger zusammen und gruppieren sich – immer zu viert – sieben mal anders. Mit vielen Staccato-Tönen reizen sie den Kater. Dagegen steht die Bewegung des Katers (12 Noten unter einem Bogen), sein Sprung (letzter Anstieg in der linken Hand) und sein Platznehmen auf einer einzigen Note am Schluss. Das Gedicht lautet: „Die vier Mäuse. Der Kater. / Die Mäuse reizen den Kater. / Der Kater strafft sich. Er springt. / Der Kater hat seinen Platz. –
Musik: wie das klingt, wollen wir jetzt doch mal hören...
Für viele Werke der Neuen Musik ist die traditionelle Notation als Zeichensystem nicht mehr angemessen. Immer mehr Zusatzzeichen mussten gefunden werden, zum Beispiel für Spielanweisungen, die für manche Kompositionen, die interpretatorische Freiheiten beinhalten, genügen auch diese Zusatz- oder Aktionszeichen nicht mehr. So entstehen grafische Partituren, die nicht selten nicht nur Spielanweisungen für Musiker sind, sondern auch eindrucksvolle Bildwerke. Als Nichtmusiker kann ich mir schwer vorstellen, wie diese Notationen in Musikstücke umgesetzt werden können; bin aber beeindruckt von der Substanz als grafische Kunstwerke. Hier ein kleiner Streifzug durch einige signifikante Beispiele:
Morton Feldman gilt als Pionier der grafischen Notation, die hauptsächlich in den 50er- und 60er Jahren entstehen. Als Beispiel sehen Sie das Blatt für eines seiner kürzesten Stücke, Palais de Marí. Allerdings dürfte er einige unbefriedigende Erfahrungen mit den Interpretationen gemacht haben, weil er in den 70er Jahren zur klassischen, präzisen Partitur zurückkehrte.
Auch Roman Haubenstock-Ramati verwendet in seinen Partituren alle möglichen Arten von Zeichen, um neuartige Klangvorstellungen festzuhalten. „Am schönsten sind die Rätsel, die verschiedene Lösungen zulassen“ schrieb er. Über das Entziffern seiner Notenrätsel können nur Assoziationen der Interpreten hinweghelfen. Am Notenblatt „Alone I“ von 1965 kann schön abgelesen werden, dass Haubenstock auch ein Grafiker und Maler war.
Großartig sind auch die Blätter von Anestis Logothetis, von dem wir das Notenbild zur „Odyssee“ von 1963 sehen. Neben dem Blatt habe ich die Zeichenschlüssel eingeblendet, die bei aller Freiheit der Interpretation die Anhaltspunkte für die Ausführenden liefern. Der Ablauf der Zeichengruppen ist festgelegt, aber innerhalb der einzelnen Zeichenkonstellationen ist den Spielern die Anordnung freigestellt, wie auch die Leserichtung.
Gerhard Rühm ist ein intermedialer Grenzüberschreiter zwischen Literatur, Musik und Bildender Kunst, dessen Werkgruppen er als „Visuelle Musik“, „Auditive Poesie“ oder „Visuelle Poesie“ benennt. Zu seiner Zeichnung aus dem Zyklus „Duo“ äußerte er sich: „Ähnlich wie Visuelle Poesie ausschließlich zum Sehen bestimmt ist, soll auch Visuelle Musik mit den Augen wahrgenommen werden und nur im inneren Ohr vage akustische Vorstellungen wecken.“
Die Partitur zu „Nostalgie – Solo für einen Dirigenten“ von Dieter Schnebel enthält genaue Anweisungen, wie sich der Dirigent bewegen und verhalten muss. Bei diesem Stück bleibt es jedem einzelnen Konzertbesucher überlassen, sich eine Musik auszudenken, die zu den Bewegungen des Maestros passen könnte. Schnebel wollte zu dieser Zeit, es war 1962, dem Publikum keine Klänge mehr aufzwingen. – Die Beispiele ließen sich noch lange weiter fortsetzen, wie mit Blättern von Stockhausen, Kagel, Ligeti, Pousseur, Brown oder Cage – aber ich fürchte, wir müssen zu einem Ende kommen.
(Über Filmmusik)
Mit dem Aufkommen des Films zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich mit der Filmmusik ein spezielles Genre, das hier nur kurz gestreift wird, weil wir darüber von Gerd Baumann hören werden. Es sei nur so viel dazu gesagt, dass bereits in der Frühzeit ab den 1920er Jahre Fugen und Symphonien in Filmsprache und in eine „visualisierte“ Musik übersetzt wurden. Man sprach von „Musik des Lichts“, vom „absoluten Film“ oder von der „Augenmusik des Films“. Die Künstler waren fasziniert von den engen Zusammenhängen zwischen Musik, Malerei und Film; sie suchten in rhythmischer Dynamik Simultanität des Ausdrucks.
Die allererste filmische Augenmusik schuf 1921 der Maler Walther Ruttmann – er nahm Musik als malerische Formenbewegungen wahr, die er mit Ölfarbe auf Glasplatten auftrug und in Einzelbildern abfilmte. Sein Photodram Opus 1 wurde in der Frankfurter Zeitung vom 2. April 1921 enthusiastisch aufgenommen (Zitat): „ Das Drängen der expressionistischen Malerei nach Bewegung, die kinohafte Hast im rasenden Durcheinander der tausend Anspielungen eines futuristischen Bildes – diese ganze Unmöglichkeit, eine zeitliche reihe von Vorgängen oder Assoziationen im räumlichen Nebeneinander zu bannen: Sie findet in der neuen Filmkunst ihre Erfüllung – ihre Erlösung aus dem Raum in die Zeit. Die Malerei hat sich mit der Musik vermählt. Es gibt eine Augenmusik.“ (Zitat Ende). Das lange verschollen geglaubte Werk wurde erst 2006 vom Filmmuseum München rekonstruiert: Hier ein kurzer Ausschnitt daraus. Die Musik stammt übrigens von Max Butting.
Der seinerzeit populärste Experimentalfilmer Oskar Fischinger komponierte seine Filme ebenfalls zu klassischer Musik. Die formalen Prinzipien waren noch relativ einfach: Hoch-tief in der Musik entsprach im Film oben-unten, hell-dunkel oder warm-kalt in den Farben; ein musikalischer Triller wird zu einer Wellenlinie, etc. Synchronisiert werden in einer Analogiebildung die Bilder zur Musik – das was man hörte, sollte man auch sehen. In den 30er Jahren versuchte er, die charakteristischen Klangelemente in visuelle Zeichen umzusetzen, die dann auf den Film übertragen oder auf elektronischem Wege wieder in Töne zurückverwandelt werden können. Hier ein kurzer Ausschnitt aus dem Film „An optical Poem“ von 1938. Die Musik ist von Franz Liszt aus der „2. Ungarischen Rhapsodie“.
Ein Paradebeispiel für die Zusammenarbeit zwischen Komponist und Maler ist das „Ballet Méchanique“ von Gorges Antheil und Fernand Léger aus dem Jahr 1924. Die Musik für Maschinen, Glocken, Ambosse, Autohupen, mechanische Klaviere und Schlagzeuge setzten Léger und der Kameramann Dudley Murphy kongenial in einen Bildersturm um. Léger wollte den Beweis erbringen, dass auch die Maschinen, die Maschinenteile und die serienmäßig fabrizierten Gegenstände brauchbare bildnerische Möglichkeiten enthalten. Hier ein kurzes Beispiel daraus:
Von der ersten Arbeiten führte ein langer Weg mit vielen bedeutsamen Stationen durch das gesamte Jahrhundert, bis zu den gegenwärtigen Musik-videoclips und Computeranimationen – die Beispiele würden allein viele Vorträge füllen. Zum Schluss noch ein weiter Sprung in die Gegenwart mit einem avancierten Beispiel aus dem Deep Space des Ars Electronica Centers in Linz, wo zu einer Live-Aufführung von Klavierstücken von Sakamoto, Glass und Cage ebenfalls in Echtzeit eine eindrucksvolle, kongruente filmische Bildgestaltung präsentiert wurde: Die Live-Visuals wurden vom Team des „Plato Media Labs“ erzeugt.