Künstliche Räume
Katalog „SPACE|INVENTIONS“, Künstlerhaus Wien, 2010
Nach den Worten des Dichter-Philosophen Paul Valéry gibt es drei Arten von Räumen: Räume, die schweigen, Räume, die sprechen, und Räume, die singen.
Die Äußerung des Dichters soll in dieser kleinen Abhandlung exponiert an erster Stelle stehen, schwebt sie doch federleicht über all den kunsthistorischen Debatten über die Frage des Raumes in der Kunst, wie sie seit Jahrhunderten mehr oder weniger verbissen ausgetragen werden. Vor allem in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und mit dem Aufkommen abstrakter Darstellungsweisen wurde die Raumfrage vehement diskutiert und sogar zum Raumproblem erklärt, das sich als sperriges Thema in der kritischen Kunstbetrachtung erwies. Das vorläufig letzte Wort in der Diskussion sprach 1963 der Berliner Kunsthistoriker Kurt Badt mit seiner Untersuchung Raumphantasien und Raumillusionen, worin er sich an den Thesen zur Raumbestimmung des Wiener Kunsthistorikers Alois Riegl rieb und abarbeitete, der in seinem 1901 erschienenen Hauptwerk Die Spätrömische Kunstindustrie die Beschäftigung mit den Fragen des Raumes zum Forschungsziel der Kunstgeschichte erklärte. Seine Forderung an die Experten, „den freien Raum als einen um seiner selbst willen berechtigten Kunstfaktor anzuerkennen“ und die Behauptung, der Raum sei das „Ziel des Wollens“ und somit „Zweck des Kunstwerks“ eröffnete zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen breiten wissenschaftlichen Diskurs, der ein halbes Jahrhundert lang andauern sollte. Kurt Badt erklärte sechzig Jahre später Riegls Kunstauffassung endgültig für veraltet. Hauptsächlich richtete sich die Kritik gegen die „Herabwürdigung der Werke zum bloßen Material richtungsloser Beschäftigung“ in der wissenschaftlich-historischen Untersuchung. Er stellte sich gegen die Annahme, dass es sich in den Künsten auf jeden Fall um Raumprobleme handeln müsse, die „nicht länger als formale verstanden, sondern als Komponenten des Ausdrucks“ angesehen werden. Dem abstrakten Raumbegriff stellte Badt einerseits die konkrete Vorstellung des Ortes entgegen, löst jedoch andererseits den Raum vom Ort und siedelt ihn in die Ganzheit menschlicher Erfahrung ein. Der Raumbegriff ist „der allerumfassendste der äußeren Wahrnehmung“, seine Verwendung in der Kunstgeschichte wird akribisch in seiner Vielfalt aufgelistet: Vom Bildraum, Tiefraum, Scheinraum bis zum Hohlraum oder zum Raumganzen finden sich gezählte 235 Varianten auf der Liste. Selber beeindruckt vom Variantenreichtum gesteht er die Vermutung, dass sich die Kunst um die Gründung eines neuen Raumbegriffes bemühe –, verwirft dies aber gleich wieder als unzulässige Spekulation. Letztlich bleibt die Untersuchung den klassischen Genres der Kunst verhaftet: der Architektur, in der es um die Gestaltung des Raumes geht; der Plastik, in der das Verhalten zum Raum bestimmend ist; und der Malerei, in der die Entfaltung des Raumes mit künstlerischen Mitteln stattfindet. Schon der abstrakten Kunst kann Badt wenig abgewinnen; er bezichtigt sie der Selbstgenügsamkeit, bescheinigt ihrem Raumbegriff „Kunstferne“ und zitiert genüsslich einen Satz von Friedrich Nietzsche: „Nichts ruiniert tiefer, innerlicher als … jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion.“
Obwohl auch die wesentlichen Werke der Kinetischen Kunst zu seiner Zeit bereits seit fünfzig Jahren bekannt waren, ignorierte Kurt Badt die neuen räumlichen Aspekte der künstlerischen Gestaltung und Wahrnehmung. Da erscheint uns der alte Riegl moderner mit seiner Annahme, dass es sowohl eine haptische als auch eine optische Wahrheit im Raum gäbe. Vermutlich hätte Kurt Badt auch die Raumerfahrungen mittels elektronischer Medien nicht zur Kenntnis genommen, die sich bereits am Horizont abzeichneten. Sein Diktum: „Der Raum ist nicht unmittelbares Objekt künstlerischer Darstellung“ ist längst nicht mehr gültig, wie die gegenständliche Ausstellung hoffentlich zeigen wird, die in zehn höchst unterschiedlichen künstlerischen Beiträgen im Realraum medial konstruierte, artifizielle Raumerlebnisse vermittelt.
Von Platon und Aristoteles bis hin zu den heutigen Theoretikern der virtuellen Realität ist viel über die Phänomene äußerer, innerer und illusionistischer Räume philosophiert und spekuliert worden; schon eine Aufzählung der wichtigsten Autoren und Thesen würde den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen. So sei nur kurz die Phänomenologie erwähnt, von der Michel Foucault schreibt, dass sie uns gelehrt hat, „dass wir nicht in einem homogenen und leeren Raum leben, sondern in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der vielleicht auch von Phantasmen bevölkert ist. Der Raum unserer Träume, der Raum unserer Leidenschaften – sie enthalten in sich gleichsam innere Qualität“. Der etymologische Begriff Raum leitet sich von räumen ab, also leer machen. Ein Platz muss demgemäß erst von Objekten befreit werden, damit Raum entsteht. Die Philosophie muss im übertragenen Sinn manche Wälder roden, um erkenntnistheoretischen Raum zu schaffen im wuchernden Dschungel der Theorien. Der Standardsatz von Kant lautet: „Der Raum ist an sich nichts, das heißt, er hat seinen Grund bloß in der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit und fällt mit dieser weg“. Im gegenwärtigen Medienzeitalter klingt der Kant'sche Satz fast schon wieder modern, ebenso wie Hegels „unendlicher Raum der Vorstellung, das gleichgültige Auseinander des Raumes“. Der mediale Raum kennt keine Haptik, keinen Geruch, entbehrt jeglicher sinnlicher Fassbarkeit und ist dennoch voll wie ein Wald, der gerodet sein will. Kennt keine festen Grenzen, mäandert als amorphes Konstrukt blitzschnell als Datengewitter über den Globus. Der Datenraum ist immateriell. Da wirkt das Schulterzucken eines Philosophen wie eine Befreiung, der mit unnachahmlicher Lapidarität vor längerer Zeit schon erklärte: „Der Raum raumt, wohingegen die Zeit zeitet“. Das war Martin Heidegger. Angelegenheit der Kunst ist es jedenfalls seit jeher, die Räume der Phantasie immer neu zu erfinden und zu füllen: „Der von der Einbildungskraft erfasste Raum kann nicht der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt. Und er wird nicht nur in seinem realen Dasein erlebt, sondern mit allen Parteinahmen der Einbildungskraft“. Dies könnte ein schönes Motto für unsere Ausstellung sein, geschrieben vom poetischen Philosophen Gaston Bachelard, der ursprünglich Naturwissenschaftler war.
Der elektronische Raum
Der elektronische Raum ist ein Raum ohne Grenzen, ohne Wände, ohne Tiefe, ohne fassbarer Form. Dieser Raum besteht aus immaterieller Information, ist Energiefluss und riesiges Datenmeer voller Nullen und Einsen. Das Elektron leitet sich aus dem Griechischen her und bedeutet ursprünglich Bernstein. Diese harzige Substanz umschließt, verklebt, erstickt alles Lebendige in ihrer Umgebung und konserviert es perfekt über hunderte Millionen Jahre hinweg.
Als Prolog zur Ausstellung fungiert Espace Intime von Robert F. Hammerstiel. In dieser Videoarbeit versucht ein Hamster vierzig Minuten lang, aus seinem Monitorkäfig auszubrechen. Die Wände des Käfigraumes bleiben unsichtbar, der Rahmen des Bildschirms ist zugleich die Grenze des Käfigs.
Der kinetische Raum
Abb.: Naum Gabo (1890-1977): „Kinetische Konstruktion (Stehende Welle)“, 1919-20, Metallstab, Elektromotor, Höhe 61,5 cm
Am Beginn der Ausstellung stehen zwei Werke, die durchaus in der Tradition der kinetischen Kunst angesiedelt werden dürfen. Mit der Verfügbarkeit praxistauglicher Elektromotoren um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert kam ziemlich bald Bewegung in die Kunst, womit nebenbei deutlich wird, wie schnell neue technische Errungenschaften in die Arbeit von Künstlern einfließen. Der Pionier der kinetischen Kunst war Naum Gabo, der die neue Technik einsetzte, um räumliche Effekte in der bis dahin statischen Skulptur zu erzielen. Sein erstes einschlägiges Objekt ist die Stehende Welle, die lediglich aus einem Metallstab besteht, die mittels Elektromotor in Schwingungen versetzt wird. Mit seiner vibrierenden Stange löste Gabo eine künstlerische Bewegung aus, die einen bedeutenden Platz in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts einnimmt und in vielen Spielarten bis heute andauert.
Als neo-kinetisches Beispiel zeigt die Ausstellung das Roto Objekt von Leo Schatzl. Stahlseile und eine Lichtschnur werden dermaßen in Vibration versetzt, sodass der optische Eindruck einer räumlichen, oszillierenden Skulptur entsteht, deren Form ohne scharfe Konturen wie eine Qualle im Raum pulsiert. Schatzl beschäftigt sich in seinem Werk immer wieder mit der Auflösung von Form mittels schneller Vibration oder Rotation. Vibframe 3 besteht zum Beispiel nur aus einem Bildrahmen, der durch die schnelle Bewegung beinahe seine Sichtbarkeit verliert, sich gewissermaßen im Raum auflöst.
Die zweite Arbeit in diesem Kontext – wenngleich mit völlig anders gearteter künstlerischen Intention – ist Der rechnende Raum von Ralf Baecker, ein filigranes Objekt, das gänzlich ohne äußere Einwirkung wie Motor oder Computer sein geheimnisvolles Eigenleben führt, ohne Abhängigkeit von elektrischem Strom. Genau besehen ist der rechnende Raum das Porträt eines Computers, der als „umgestülpte Maschine“ seine Rechenvorgänge und seine prozessuale Logik klar vor Augen führt. Allerdings bleibt jeglicher nachvollziehbarer Zweck dem Verständnis verborgen; es ist kaum möglich, das Zusammenspiel der Komponenten und die Zustände der Abfolge zu erfassen. Die Skulpur besteht aus Holzstäben, Schnüren und kleinen Bleigewichten, die durch das Anstoßen eines der vielen Hebel in Bewegung versetzt werden. Ralf Baecker verschaltet über zweihundert Hebel-Einheiten, die den Apparat in Aktivität bringen, und simuliert damit ein neuronales Netzwerk, das in der Lage ist, die Booleschen Operationen Und/Oder/Nicht durchzuführen. Der rechnende Raum ist eine Referenz an den Computerpionier Konrad Zuse, der vorgeschlagen hatte, das Universum als einen gigantischen zellularen Automaten zu betrachten.
Die Rauminstallation Choose Your Day von Vadim Fishkin generiert mittels kompakter Maschinerie aus Licht, Geräuschen, Projektionen und diversen Geräten wahlweise sieben verschiedene Wetterstimmungen im Zimmer. Die Entscheidung, welche Stimmung herrschen soll, trifft eine Person von einem Fauteuil aus. Die Möglichkeiten per Knopfdruck sind sunny day (blauer Himmel im Fenster, Flutlichter, Vogelgesang), stormy day (stürmischer Wolkenhimmel, Geräusch eines Sturmes, Haartrockner, schwingende Glühbirnen, Blitzlichter), rainy day (Regentropfen am Fenster, entsprechendes Geräusch), winter evening (Schneefall am Fenster, Flutlicht), sunset (Sonnenaufgang durchs Fenster, Halogenflutlicht, Ventilator, Klang von Wind und Vögel), moon night (Mond scheint durchs Fenster, Reflektorlicht, Klang von Nachtinsekten), on Mars (Projektion einer Marslandschaft mit schwarzer Wolke, rotes Halogenlicht, rotes Stroboskoplicht).
Der atmosphärische Raum
Das Atmosphärische steht notwendigerweise mit dem Licht in Verbindung, um noch einmal Kurt Badt zu bemühen: „Im allgemeinen ist die Luft für das Auge unwahrnehmbar, vor allem in der Nähe. Sie wird anschaulich nur unter besonderen Bedingungen, als Dunst, Glast, Nebel, der sich zum Gewölk verdichtet“.
Die Rauminstallation fades von Carsten Nicolai ist möglicherweise solch ein atmosphärisches Gebilde aus Licht, Nebel, Bildern von modulierten Wellen und rauschenden Klängen. Ein Wahrnehmungsraum, der die Sinne des Gastes umhüllt, ohne feste Grenzen zu haben, wie ein Haus, das der Dichter Georges Spyridaki beschreibt: „Mein Haus ist durchscheinend, aber nicht aus Glas. Eher wäre es aus einer Art Rauch. Seine Wände verdichten und verdünnen sich nach meinem Wunsch … manchmal lasse ich die Wände meines Hauses sich entfalten in ihrem eigenen Raum, welcher die unendliche Ausdehnbarkeit ist“. Den technisch perfekt inszenierten Räumen von Carsten Nicolai ist kaum anzumerken, dass sie oft auf Naturbeobachtungen begründen, auf das Interesse des Künstlers an den Naturwissenschaften, das zu synchronisierten Raumskulpturen führt, in denen ein harmonisches Zusammenspiel der Elemente stattfindet. Seinen Arbeiten gehen wissenschaftlich orientierte Beobachtungen voraus, aus denen er die Einflüsse für seine atmosphärisch dichten Sinnesräume holt, die unser sensorisches Wahrnehmungsvermögen auf die Probe stellen, indem Klang sichtbar gemacht wird und Lichtfrequenzen hörbar werden.
Ulf Langheinrich verfolgt mit seiner großen Kuppel-Installation Hemisphere die Absicht, ein Publikum in ein immersives Environment zu ziehen, in einen Bildraum, der nur aus feinkörnigem Flimmern fraktaler Strukturen und Partikel besteht. Immersiv bedeutet „Eintauchen“, was den Eintritt eines Himmelskörpers in den Schatten eines anderen bedeuten kann, das Eintauchen eines festen Stoffes in eine Flüssigkeit, oder auch das Untertauchen eines Täuflings im Weihwasser. Der Künstler begibt sich auf die Suche nach einer Formel für eine weitgehende „Entgestung und Entleerung“ des Raumes, was eine Haltung der Verweigerung von opulenten Bildern miteinschließt. Paradoxerweise evoziert das „ästhetische Plasma“ durchaus ein eindrucksvolles Raumerlebnis mit starken visuellen Komponenten, die von Klängen strukturiert sind.
Der transzendente Raum
Abb.: Stonehenge bei Sonnenaufgang (Foto: Andrew Dunn)
Stonehenge Kreis
Als transzendenter Raum könnte jene Überschreitung gedacht werden, die vom materiellen irdischen zum immateriellen himmlischen Leben führt, wie sie in der christlichen Religion verankert ist. Der Buddhismus hingegen sieht Transzendenz in der Dualität von relativer und absoluter Wirklichkeit, wobei die relative den nicht erleuchteten Wesen zukommt, die absolute jedoch nur den Erleuchteten, die ihre Erfüllung im Nirvana finden.
Klassisches Beispiel für einen Ort, der als Verbindung zum Überirdischen fungiert, ist der steinerne Kreis von Stonehenge, dessen erste Bauphase im Jahr 3.100 vor unserer Zeitrechnung angenommen wird. Ein gewissermaßen auf die Erde gezogener Himmelsraum, der punktgenau auf den Einfall des Sonnenlichtes am Tag der Sommersonnenwende ausgerichtet ist.
Mit ihrer Objektinstallation Transcircle bezieht sich die Künstlerin Mariko Mori auf die mythisch aufgeladene Anlage von Stonehenge. Ihre leuchtenden Steine stellen die neun Planeten unseres Sonnensystems dar und empfangen ihr Licht nach den in Echtzeit berechneten Bewegungen der Himmelskörper. Die Veranschaulichung ewiger universeller Zyklen schafft einen Raum voller meditativer Energie, in dem die Künstlerin das schlafende Urbewusstsein wecken möchte, in dem im transzendenten Sinn über existenzielle Fragen reflektiert werden darf, über eine Wirklichkeit, die unser sinnliches Wahrnehmungsvermögen eigentlich überfordert. Transformation und Transzendenz sind seit ihrem berühmt gewordenen 3D-Video Nirvana immer wiederkehrende Motive in ihrem Werk, das sich in den letzten Jahren vermehrt mit übersinnlichen Wesen füllt, beispielsweise mit der Figurengruppe Onesness – freundliche Aliens, die von innen heraus zu leuchten beginnen, wenn sie umarmt werden. Mariko Mori verknüpft esoterisch angehauchte Spiritualität mit populärer Unterhaltungstechnologie, um einen gefühligen, unverbindlichen Dialog zwischen Mensch, Maschine und Universum zu führen. Eine ihrer spektakulärsten Arbeiten der letzten Jahre ist das Wave UFO, ein begehbarer Raum in Form einer silbrigen Träne, worin die Gehirnströme der Besucher gemessen werden, um von einem Computerprogramm harmonisch verschmolzen in bewegte Bilder transformiert zu werden, die in der Kuppel des Ufos als farbenfrohe, blubbernde Muster erscheinen.
Der Beobachtungsraum
Abb: Jeremy Bentham (1748-1832): „Panopticon“, Architekturskizze
Mit seinen hundert Augen sollte Argus oder Panoptes die in eine weiße Kuh verwandelte Io bewachen, um die Annäherung des untreuen Zeus zu verhindern. Das Überwachungssystem Argus wurde durch das Flötenspiel des Hermes eingeschläfert … wir wissen schon, wie es weitergeht. Panoptes, der Beherrscher des Überwachungsraumes, stand Pate für das „Panopticon“ des Juristen Jeremy Bentham, der im achtzehnten Jahrhundert eine modellhafte kreisrunde Architektur entwarf, in der eine ideale Beobachtung von einem zentralen Turm aus ermöglicht wurde. Nach diesem Modell wurden viele Gefängnisse und Arbeitshäuser gebaut. Die Anordnung hat den Zweck, dass sich die Insassen permanent beobachtet und kontrolliert fühlen, ohne zu wissen, ob der Turm tatsächlich besetzt ist. Die modernen Video-Überwachungssysteme erfüllen dieselbe Funktion, eine Vielzahl von Kameras an Plätzen und Gebäuden erfasst sämtliche Bewegungen des öffentlichen Lebens. Keine List eines Hermes ist imstande, die Aufmerksamkeit der unzähligen Augen einzuschläfern.
Die Computeranimation Pedestrian von Paul Kaiser und Shelley Eshkar wirkt wie von einer Überwachungskamera aufgenommen. Der Film, sorgt für ein kurzes Schwindelgefühl, wenn man von oben auf die winzigen menschlichen Figuren, die auf den Boden projiziert sind, herabschaut, als würde man über ihnen schweben, sie durch eine Linse beobachten. Diese animierten Menschlein bewegen sich mit unheimlicher Wirklichkeitsnähe über die Straßen und Plätze einer Trompe-l'œil-Stadt, die in fast fotografischem Realismus digital produziert wurde. Sie betreten und verlassen virtuelle Gebäude, öffnen Regenschirme, um sich gegen synthetische Regentropfen zu schützen und weichen einander in der Menschenmenge aus. Manchmal sieht es so aus, als würden sie sich in Formationen bewegen, die an Vogelschwärme erinnern, oder nach einer choreographierten Routine komplexe Muster auf dem Boden nachzeichnen. Inspiriert wurde das Stück von Elias Canettis Masse und Macht, in dem die Rudelmentalität von Massen untersucht wird.
Seiko Mikami füllte in der ersten Version von Desire of Codes eine Wand mit einer Matrix aus Überwachungskameras, Sensoren und Lichtspots – einer Gruppe sich bewegender kleiner Skulpturen aus hautähnlichem Silikon. Jedem der Objekte ist ein Barcode eingraviert und reagiert auf kleinste Bewegungen des Publikums. Voller Neugier wenden sich alle sechzig Maschinchen der eintretenden Person zu, die „Augen“ verfolgen sie und behalten sie während der Dauer des Aufenthaltes im Blickfeld. In der neuen Version von Desire of Codes sind die Kamera-Augen auf Roboterarmen montiert, von denen die Personen im Raum regelrecht verfolgt werden. Das Verhalten des Publikums wird registriert, in Codes umgesetzt und als gespeichertes Bild projiziert. Seiko Mikami reagiert mit dieser Arbeit auf die allgegenwärtige gesellschaftliche DNA, dem Datenspeicher, der aus allen elektronisch erfassbaren Handlungen gefüllt wird und aus dem jederzeit ein persönliches Profil abrufbar ist, das von Einkaufsverhalten, Krankheitsverläufen, Verkehrsdelikten bis zu Essgewohnheiten etc. reicht. Das Individuum wird durchsichtig und berechenbar,er damit auch manipulierbarer.
Der virtuelle Raum
Der Kunsthistoriker Hans Belting weist darauf hin, dass es seit dem 19. Jahrhundert keine notwendige Verbindung geben muss zwischen sinnlicher Wahrnehmung und einem real existierenden Objekt: „Mit Hilfe von Technik produzierte sinnliche Illusionen vermögen sinnliche Erfahrungen ebenso herzustellen. Die ,Abwesenheit der Zurückführbarkeit' trat an die Stelle verifizierbarer Relation von Wahrnehmung und Gegenstand und bildete die Voraussetzung für die Experimente der Moderne. Diese können heute ihrerseits nur als ein Vorspiel für die Welt der Simulation und des Hyperrealen (Jean Baudrillard) betrachtet werden“. Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts tauchten die ersten „Virtual Reality“-Systeme auf und revolutionierten sämtliche illusionistischen Bildräume, wie sie seit der Renaissance bis zu den 3D-Filmen bekannt sind. Da wurden nicht mehr statische Raumillusionen geboten, sondern Bildräume, die sich mit den Bewegungen der Besucher veränderten, als ob sie sich tatsächlich mitten im Environment befänden.
Johannes Deutsch bewegt sich ganz eigen-artig zwischen Malerei und Computerkunst, wobei ihm vor allem mit dem Gesichtsraum eine Synthese gelungen ist, die er für das Virtual-Reality-System „CAVE“ des Linzer Ars Electronica Centers entwickelte. Ausgangspunkt ist ein gemaltes eingestülptes Gesicht in einem Projektionsraum. Das Ausstellungspublikum hatte die Möglichkeit, den Gesichtsraum zu betreten und mit dem Gesicht durch Standortwechsel im Raum, durch Armbewegungen und sogar durch Blickkontakte interagieren. In das Gesicht konnte man gewissermaßen eindringen und Teil von ihm werden.
Bedauerlicherweise kann in der Ausstellung nur eine filmische Dokumentation des Gesichtsraumes gezeigt werden, weil die Technologie innerhalb von acht Jahren bereits veraltet und nicht mehr verfügbar ist. Dies verdeutlicht einen wunden Punkt bezüglich der Haltbarkeit von Medienkunst, von ihrer Abhängigkeit von aktuellen Technologien, womit die Künstler zur Produktion von ephemeren Werken gezwungen werden. Wie in der Performance-Kunst bleiben bestenfalls fotografische oder filmische Dokumente fürs Archiv übrig.
Der künstliche Raum
Abb.: Cao Fei (*1978): RMB City, seit 2007, Gesamtansicht, Screen Shot, Second Life.
„Der Raum, aber Ihr könnt nicht begreifen, dieses fürchterliche Drinnen-und-Draußen, das der wahre Raum ist“ – die ein wenig orientierungslos anmutende Definition klingt nach den Experimenten mit bewusstseinserweiternden Drogen Mescalin und LSD, mit denen der Künstler Henri Michaux in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts experimentierte. Erstaunlicherweise bekamen Hippie-Gurus und LSD-Päpste wie Timothy Leary oder Perry Barlow von der Rockgruppe Greatful Dead mit der Erfindung der Virtual Reality-Technologie eine späte Konjunktur. Es scheint ein großer Anreiz gewesen zu sein, sich eine künstliche Welt erschaffen zu können, nach eigenen Vorstellungen und mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, ohne Materie und ohne Körper. Bis heute nützen erstaunlich viele Menschen die Möglichkeit, sich einen Wunschkörper und eine Wunschexistenz im globalen Datenraum zu schaffen, um dort auf Leute zu treffen, deren Identitäten ebenfalls außerhalb des wirklichen Lebens konstruiert ist. Sinnigerweise wurde für die simulierte Persönlichkeit das Bild des Avatars gefunden, der im Hinduismus als Inkarnation des Gottes Vishnu gilt, der in irdische Spähren herabsteigt. Im künstlichen Raum der Ersatzwelt Second Life sind angeblich mehr als elf Millionen Bewohner registriert. Diese Welt besteht aus einem Computerprogramm, das im Internet existiert. Damit gestalten die „Bewohner“ nicht nur ihr Aussehen, sie erschaffen Objekte, navigieren durch die artifizielle Welt und kommunizieren mit artifiziellen Partnern. Dieser künstliche Raum zieht viele Künstlerinnen und Künstler an, die hier ein neues Aktionsfeld für ihre Arbeit sehen. Als Beispiel sei hier lediglich die chinesische Künstlerin Cao Fei genannt, die in Second Life eine riesige Stadt namens RMB City baut, als Kondensat aus verschiedenen modernen chinesischen Städten, geschichtlichen Zitaten und Imaginationen über zukünftige Lebensformen in China.
Robert F. Hammerstiel bewegt sich durch die Welt des Second Life als fotografierender Tourist und Beobachter, um die Beziehung zwischen Realität und Schein zu erforschen, „um die installierten Trugbilder, die verkaufte Vorstellung von Identitätsbildern, die nachgebaute Wirklichkeit zu entlarven“ und sie in die reale Welt der Kunst zu importieren. So entstehen Fotoserien wie Instant Vacations und Landmarks, oder Videoarbeiten wie Pose Balls und Instant Message. Hammerstiel befragt die Avatare nach ihren Motiven und fixiert die Aussagen in seinen Aufnahmen aus der künstlichen Welt, die für viele Menschen ein Fluchtort aus der realen Welt geworden ist; eine Fertigteil-Parallelwelt ist, die gestattet, neue Fertigteil-Identitäten anzunehmen und soziale Kontakte zu anderen Kunstpersonen aufzunehmen, die man als reale Personen nie kennen lernen wird. Ein anderer Künstler-Bewohner des künstlichen Raumes ist Jo Fabien, der resümiert: „Was immer wir auch im Cyberspace erträumen und so viele erfundene Wirklichkeiten wir auch erzeugen, letztendlich begegnet der Datenreisende den wohlvertrauten Mustern seiner realen Existenz.“
Literatur:
Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Frankfurt am Main 1987.
Badt, Kurt: Raumphantasien und Raumillusionen. Köln 1963.
Belting, Hans: Das Erbe der Bilder. Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt. München 1998.
Wirths, Axel: Ort und Raum. In: Der elektronische Raum, Katalog der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn. Ostfildern 1998.